Der offene Bücherschrank und wie ich lernte, ihn zu lieben

Offene Bücherschränke überziehen das Land, selbst in der tiefsten Provinz finden sich gut bestückte Exemplare. Unser Autor Martin Zellhofer hat sich ein paar Gedanken zu den Schränken und deren Inhalt gemacht.

© Martin Zellhofer

Wer soll das alles lesen? So eine Menge. So eine Vielfalt. So obskure Themen. So ramponierter, abgegriffener Schrott. Immer dasselbe Buch. Zeige mir einen, nur einen Bücherschrank, ohne Betty Mahmoodys »Nicht ohne meine Tochter«. Jo, ein Klassiker. Aber halt aus den 1990ern. Nur einen, ohne die aufgeblasenen Hardcover-Ausgaben mit extra dickem Papier von Willi Heinrich, Heinz G. Konsalik, Arthur Hailey, J. M. Simmel oder Marie Louise Fischer. Die verkauften sich sprichwörtlich millionenfach, aber das war einmal. Liest das heute noch jemand? Einen, ohne die uralten, zerfledderten rororo-Taschenbücher von Autor*innen, die kein Mensch mehr kennt.

Diese Bücher nimmt auch kaum wer mit, regelmäßige Runden von Schrank zu Schrank beweisen das. Ich muss mich oft zusammenreißen, das ganze Klumpert nicht in den Altpapiercontainer zu tragen. Geht mich nichts an, geht mich nichts an, geht mich nichts an. Um dann doch wenigstens Werbebroschüren obskurer Sekten und das Billa-Magazin zu entfernen. Es ist eine Wohltat, wenn die offiziellen Kastenbetreuer*innen für Wechsel sorgen …

Weitere Bücherschrankklassiker: Die Gratisbücher der Stadt Wien (vom Anspruch her meistens okay, aber Kundige haben die bereits am Tag der Erstverteilung ergattert). Oder die »Shades of Grey«-Reihe. Oder das in meiner Volksschulzeit in den 1980ern verteilte »Drei auf Draht«, eine Story über technikaffine Kinder, die eine Schülerzeitung gründen. Das war eine Wiedersehensfreude! Ich wollte es meinen Kindern vorlesen, aber der Stand der Technik der 1980er ist heute so aus der Zeit gefallen, dass ich es bleiben ließ.

Und sonst: Münzkataloge, ganze Jahrgänge von Eisenbahnzeitungen oder Strickzeitschriften, Fitnessbücher, alte Reiseführer, Anleitungen für Windows-Betriebssysteme, die schon lange nicht mehr verwendet werden, und Excel-Versionen, die schon 30 Jahre nicht mehr verkauft werden. Und so fort.

Kommen die Kenner*innen heimlich?

»Mein« Bücherschrank gleich um die Ecke ist stets bummvoll und sogar um ein Regal erweitert worden. Manchmal beobachte ich ihn von der anderen Straßenseite aus. Der Kasten steht an einem belebten Platz, aber der geht vorbei, der geht vorbei, der geht auch vorbei. Ist es den Passant*innen zu mühsam, Gutes aus dem Schrank zu wühlen oder interessieren sie sich schlicht nicht für Bücher? Kommen die Kenner*innen heimlich? Ist’s ihnen peinlich, hier gesehen zu werden? Ist das Image des Schranks schlecht?

Eigentlich hat er nämlich zwei wesentliche Pluspunkte: Alles ist gratis und die Weiterverwendung der Bücher ist nachhaltig. Spendenaufrufe an manchen Kästen (»Wer ein Buch behält, möge doch bitte …«) sorgen dafür, dass das Lesen auch noch einen guten Zweck erfüllt.

Wer stellt Bücher in den Bücherschrank? Ein großer Teil entstammt wohl der Rubrik »Oma und Opa sind verstorben und wir mustern deren Bücher aus«. Bibliotheken, erkennbar an den Signaturen oder Bibliotheksstempeln, verjüngen ihre Bestände via Bücherschrank. Ehemalige Schüler*innen stellen nach der Matura ihren Oberstufenkanon in den Schrank: Böll, Brecht, Dürrenmatt, Robert Schneider. Wenn sie diese Klassiker nicht aufheben, was werden die in Zukunft noch lesen? Unliebsame Geschenke landen sicherlich auch im Schrank. Und es wird wohl die normalen Leser*innen geben, die sich von Ausgelesenem trennen und Platz im Buchregal schaffen.

Ich für meinen Teil liebe die Schränke: Denn mit Geduld lässt sich aus ihnen wirklich viel Brauchbares ziehen, wofür ich mir drei Kategorien zurechtgelegt habe: Aktuelles, Klassiker und Zufallstreffer. Der aktuelle Treffer ist natürlich nie wirklich aktuell. Niemand findet Annie Ernaux, Literaturnobelpreisträgerin 2022, nach der Preisverleihung im Bücherschrank. Ich habe aber schon mehr oder weniger am Puls der Zeit unter anderem die Austrofred-Werke »Du kannst dir deine Zauberflöte in den Arsch schieben« und »Ich rechne noch in Schilling« (offener Bücherschrank am Margaretenplatz), Elena Ferrantes »Meine geniale Freundin« und Doris Knechts »Besser« (beide Langenzersdorf), Wolfgang Herrndorfs »Tschick« (Sierndorf), Michael Köhlmeiers »Die Nibelungen« (Hugo-Bettauer-Platz), Robert Menasses »Die Vertreibung aus der Hölle« (vergessen, aus welchem) an Land gezogen.

Lebt Elke noch?

Leichter funktioniert’s mit Klassikern. Böll, Dürrenmatt, Glauser, Handke, Highsmith, Hemingway, Hesse, Mann (Thomas), Perutz, Schnitzler, Seghers, Torberg, Werfel – alles schon entdeckt. »Frohe Ostern wünscht Dir Deine Elke. Krippenstein, März 1964«, stand in Heinrich Bölls »Wanderer, kommst du nach Spa…«, einer Sammlung von Kurzgeschichten aus dem zerstörten Nachkriegsdeutschland. Schenkt man sich heute noch Böll? Lebt Elke noch? Dieses Buch hatte, als ich es gefunden habe, mindestens 58 Jahre am Buckel und war in einem tadellosen Zustand. Ich war sehr sorgfältig damit – und trotzdem war es, als ich nach ein wenigen Tagen durch war, in Einzelteile zerfallen. Warum? Hat das zuvor jahrzehntelang niemand mehr in der Hand gehabt? Ein besonderer Magic Moment ereignete sich in Eisenhüttenstadt, ehemals in der DDR. Im lokalen Bücherschrank fand sich vieles aus DDR-Zeiten, unter anderem Anna Seghers »Die Kraft der Schwachen«. Erschienen 1966 im Aufbau Verlag Berlin und Weimar, gedruckt im Grafischen Großbetrieb Völkerfreundschaft, laut Widmung verschenkt zum Lehrertag 1966 von einem Schüler und seinen Eltern. Mehr Ostalgie geht nicht.

Die schönsten Treffer aber sind die Zufallstreffer, wo es gelingt, mir bisher Unbekanntes zu entdecken. Das funktioniert meistens über den Verlag. Weiß ich, dass der sonst Brauchbares veröffentlicht, nehme ich auch Bücher von mir total unbekannten Autor*innen mit. So zum Beispiel »Das kunstseidene Mädchen« (DTV) der von den Nationalsozialisten verfemten deutschen Schriftstellerin Irmgard Keun, das vom Scheitern der jungen Doris erzählt. Oder Murgia Michelas Roman »Accabadora« (Wagenbach), eine schöne Geschichte über Kindheit, Familie, Treue, Riten und Traditionen auf Sardinien. An Volker Brauns »Unvollendeter Geschichte« fand ich besonders die Art der Erstveröffentlichung interessant: Weil der Text Kritik an der DDR äußert, durfte er dort als Buch nicht erscheinen, wohl aber in einer DDR-Literaturzeitschrift. Fraglich, ob ich diese Bücher je in einer Buchhandlung gekauft hätte. Gut, dass ich sie gefunden habe.

Oft nehme ich aus einem vollen Schrank nichts mit, selbst wenn Gutes dabei ist. Es genügt mir, alles anzusehen und zu wissen, dass ich es auch morgen noch holen könnte …

Martin Zellhofer (früher Buchhändler, später Verlagsangestellter) ist beruflich eigentlich darauf angewiesen, dass sich Bücher auch verkaufen. Offene Bücherschränke mag er trotzdem.

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