Eine sozialistische Planstadt als Spiegel der versunkenen DDR – »Architekturführer Eisenhüttenstadt« von Martin Maleschka

»Denn es muß uns doch gelingen. Daß die Sonne schön wie nie. Über Deutschland scheint.« – Diese programmatischen Zeilen aus der Hymne der DDR sind in der sozialistischen Planstadt Eisenhüttenstadt, heute zu einem großen Teil unter Denkmalschutz stehend, architektonisch verwirklicht worden.

© Martin Maleschka

Europa teilte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in West und Ost, östlich des »Eisernen Vorhangs« regierte der Kommunismus. Der verfolgte neben politischen und gesellschaftlichen Zielen auch künstlerisch-ästhetische. Und dabei natürlich auch architektonische, die sich in speziellen sozialistischen Formensprachen manifestierten. Da große Teile Europas kriegsbedingt in Trümmern lagen, konnten viele Städte oder Stadtteile des Ostens den neuen Idealen entsprechend wiederaufgebaut werden. Berühmte Beispiele sind die (Ost-)Berliner Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee), die Prager Straße in Dresden, das nach dem Krieg fast vollständig neu errichtete Minsk, … Das ließe sich jetzt endlos fortführen. Und natürlich beschränkte sich der neue Stil nicht nur auf den Wiederaufbau zerstörter Städte, Viertel oder einzelner Häuser. Er wurde vielmehr bestimmendes Programm in Osteuropa.

Sozialistische Planstädte

Eine besondere architektonische Spielart bildete die sozialistische Planstadt: Das waren gänzlich neu errichtete Städte oder riesige neue Stadtteile, die alle Merkmale einer eigenständigen Stadt aufwiesen. Beispiele sind Nowa Huta in Polen, Novi Beograd in Serbien, Dunaújváros (Ungarn), der Stadtteil Poruba in Ostrava (Tschechien), … Viele dieser Planstädte entstanden gleichzeitig mit einem nahe gelegenen industriellen Komplex und sollten durch intelligente Planung und ansprechende Gestaltung den Werktätigen die Verwirklichung sozialistischer Träume bringen – zumindest auf architektonischer Ebene.

So auch Eisenhüttenstadt südlich von Frankfurt an der Oder. Der Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschloss 1950 die Errichtung eines Eisenhüttenkombinats. Der Bau der Anlage und der dazugehörigen Wohnbaracken begann im gleichen Jahr. 1953 bekam die Ansiedlung das Stadtrecht und den Namen Stalinstadt verliehen. 1954 waren sechs Hochöfen fertig. Die Stadt, 1961 in Eisenhüttenstadt unbenannt, wuchs durch den Ausbau der Industrie weiter und weiter. 1989, im Jahr der politischen Wende, erreichte die Einwohnerzahl mit 52.674 ihren Höhepunkt – um bis 2020 auf 23.373 zu sinken.

Martin Maleschka, geboren 1982, stammt aus Eisenhüttenstadt, das er wie so viele seiner Generation nach der Schule verlassen hat. Er studierte Architektur, begeistert sich bis heute für die architektonische Moderne und Kunst im öffentlichen Raum und begann, diese fotografisch zu dokumentieren. Und das ist gut so, denn seit der Wende 1989 verschwinden Bauten und Denkmäler der DDR nicht nur in Eisenhüttenstadt. Der Niedergang der Industrie führte zur Abwanderung, die Menschen bevorzugten das nun mögliche eigene Haus mit Garten statt dem Plattenbau, der leerstehende Wohnraum in den Städten wurde »rückgebaut« (abgerissen), die sozialistische Ästhetik nicht wertgeschätzt. Leerstand und Verfall sind bis heute im Osten deutlich sichtbar. Maleschka hingegen tritt mit seinem Architekturführer an zu zeigen, »wie wertvoll die einzigartige Stadtanlage Eisenhüttenstadts mit ihren weitgehend erhaltenen Wohnkomplexen I bis IV ist«.

Ein linkes Who’s who

Wer den reich illustrierten Reiseführer durchblättert, erkennt: In Eisenhüttenstadt spiegelt sich noch immer die versunkene DDR. Nicht nur, dass der Stadtname erhalten blieb, es gibt auch eine Menge Straßen, die nach der Wende nicht unbenannt worden sind und die durch ihre Benennung nach dem Who’s who linker Politiker*innen, Schriftsteller*innen und Intellektueller (Karl-Marx-Straße, Rosa-Luxemburg-Straße, Friedrich-Engels-Straße, Karl-Liebknecht-Straße, Bertold-Brecht-Allee, Maxim-Gorki-Straße, Clara-Zetkin-Ring) noch heute sozialistisches Flair versprühen. Sogar das Stahlwerk hat die Wende überlebt und ist modernisiert in Betrieb.

Bestand der erste, Anfang der 1950er-Jahre in Eisenhüttenstadt errichtete Wohnblock I aus bloßen Zweckbauten, wandten sich die Architekt*innen anschließend der »Nationalen Bautradition« zu, die sich zuerst an klassizistischen Vorbildern (Wohnkomplex II), dann am deutschen Heimatstil der 1920er (Wohnkomplex III) anlehnte. So zu bauen – nämlich traditionell in jeder Hinsicht – war teuer, daher gewannen im Lauf der Jahre vorgefertigte Bauteile (»Platte«) immer mehr an Bedeutung. In der zweiten Hälfte der 1950er setzte sich das Motto »besser, billiger, schneller« durch, was sich im Wohnkomplex IV und der zentralen Magistrale, der Leninallee (heute Lindenallee), im Stil der typischen Nachkriegsmoderne zeigte. Die Stadt wuchs bis 1989 bis Wohnblock VII, bei dem längst eine etwas gar eintönige Plattenbauweise dominierte. Parallel dazu legte die DDR in all den Jahren viel Wert auf Kunst im öffentlichen Raum, was sich in politischen, ideologischen und wertfreien Statuen, Denkmälern, Gemälden, Sgraffitos, Mosaiken usw. in der ganzen Stadt spiegelt.

Fast all das lässt sich mit dem »Architekturführer Eisenhüttenstadt« entdecken, der mit der »Architektur-Route« und der »Kunst-Route« zwei Wege durch die Stadt bietet und diese mit aktuellen Aufnahmen der Bauten und Denkmäler illustriert. »Fast all das« deshalb, weil zwar ein großer Teil der Stadt unter Denkmalschutz steht, die modernen Wohnblöcke aber nicht. Viele von denen sind bereits »rückgebaut«. Dank Denkmalschutz ist etliches saniert, aber bei den zahlreich vorhandenen Leerständen, den zum Teil sichtlich lange ungenutzten und durch Vandalismus beschädigten Gebäuden, schwingt Melancholie mit. Ein Eindruck, der sich noch verstärkt, weil auf den meisten Fotos weder Menschen noch Autos zu sehen sind. Eine Einführung über die historische und architektonische Entwicklung Eisenhüttenstadts bis in die Gegenwart, historische Ansichtskarten und ein Interview mit einem der damaligen Chefarchitekten runden das Bild über die Stadt ab.

Eisenhüttenstadt lässt sich von Wien aus mit dem Nachtzug mit nur einmal Umsteigen erreichen. Go east! Es lohnt sich.

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