„Der Rest kommt jetzt auf den Müll“

Über das Aussortieren, Playlisten und den ständigen Neuanfang. Max Rieger (All diese Gewalt, Die Nerven) im Interview zur Erscheinung von „Welt in Klammern (Addendum)“.

AllDieseGewalt © MaxZerrahn
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160 Demos mussten geschrieben werden, damit „Welt in Klammern“ von All diese Gewalt in seiner finalen Version im Herbst 2016 erscheinen konnte. Mit seinem Soloprojekt macht Max Rieger, der Gitarrist der Stuttgarter Postpunk-Band Die Nerven, wie er es selbst nennt, Drone-Pop. Eine Mischung aus Noiserock, Ambient, 70er-Jahre-Sci-Fi-Synthie-Melodien und repetitiven Krautrock-Momenten. Im Mai erscheint nun „Welt in Klammern (Addendum)“. Ein Zusatz aus Livemitschnitten, Remixes und drei Songs, die es nicht auf das Album geschafft haben, aber trotzdem gehört werden sollten.

 

Wie kam es zu der Entscheidung, ein Addendum zu „Welt in Klammern“ zu veröffentlichen?

Max Rieger: Die Idee hatte ich erstmals, als ich die Livemitschnitte, die es zur Tour gab, ausgewertet habe. Die Songs sind nicht nur eine Livedarbietung der Studioversionen, sondern sie haben sich – durch die Zusammenarbeiten mit den Musikern der Liveband – transformiert. Außerdem gab es noch einen Haufen Songs, die es nicht auf das Album geschafft haben.

Bei den Aufnahmen zu „Welt in Klammern“ hast du teilweise über 100 Spuren in einem Song verwendet. Wie lässt sich das adäquat auf die Bühne übertragen?  

Das Wichtigste ist, sich bewusst zu machen, was in einem Song relevant ist. Letztendlich interessiert sich niemand für die 100 Spuren. Die Idee war auch nie, dass es nach 100 Spuren klingt, und ich behaupte auch immer noch, dass es nicht nach 100 Spuren klingt. Wenn ein Song aus fünf Gitarrenspuren besteht, muss man sich überlegen, welche Spur den Song trägt und welche davon im Hintergrund für Zusätzliches sorgen. Dann geht es um die Aussortierungen und darum zu schauen, wie es mit wenigen Elementen funktioniert.

Es heißt, du hast über 160 Demos für das Album geschrieben, von denen es letztendlich zehn Songs auf das Album geschafft haben, drei weitere erscheinen jetzt auf „Addendum“. Kannst du nun endgültig damit abschließen?

 Ja, genau. Darum ging es mir auch irgendwie. Ich hatte erst eine Liste mit 20 Songs, die als Bonussongs getaugt hätten. Dann musste ich rigoros aussortieren, weil vieles davon schon lange obsolet ist und gar nicht mehr das repräsentiert, was ich musikalisch machen will. Die drei Songs sind Stellvertreter für diese Songs und der Rest kommt jetzt auf den Müll.

„Die Welt in Klammern“ ist ein dramaturgisch genau ausgearbeitetes Album. Betrachtest du ein Album als ein in sich geschlossenes Kunstwerk?  

Ich habe unlängst mit einer jungen Künstlerin zusammengearbeitet und ihre EP aufgenommen. Als dann die EP fertig war und ich ihr meine persönliche Trackliste von den vier Songs geschickt habe, meinte sie, dass sie das gut findet, aber das es am Ende sowieso egal sei. Dann hab ich sie gefragt warum, und sie sagte, die Art, wie sie Musik auf Spotify hört, ist, dass sie sich Songs rauspickt und anhört und ihre eigene Playlist erstellt. Ich kenn viele Leute, die das mit den Playlists machen, aber ich kenn auch wiederum viele Leute, die an der Gesamterfahrung von einem Album interessiert sind. Ich bin nun mal so sozialisiert worden. Für mich müssen es nicht unbedingt Konzeptalben sein, aber in sich geschlossene Dinge. Ich kann nachvollziehen, warum Leute nicht mehr daran interessiert sind, ein ganzes Album am Stück zu hören. Es könnte durchaus daran liegen, dass die Alben nicht mehr so konzipiert sind, dass sie auf eine Gesamtlänge funktionieren, sondern dass sie eine Ansammlung von Songs sind. Es gab aber immer auch schon Alben, die nur eine Ansammlung von Songs waren, und Bands, die bloß durch ihre Singles bekannt geworden sind. Ich finde, ehrlich gesagt, nicht, dass es obsolet ist, dass man versucht, ein Album zu machen, was am Stück durchläuft. Ich verwende viel Zeit darauf, die Songs hin- und herzuschieben, um eine Stringenz herzustellen.

Die Produktion für ein neues All-diese-Gewalt-Albums ist schon im Gange. 90 Demos hast du bereits. Wie viele müssen es noch werden, damit daraus ein Album werden kann?

Oh, so wie es aussieht noch viele. Ich tue mir ganz schwer damit, mir zu überlegen, wie weit ich mit dem neuen Album bin, und fürchte, dass ich wirklich noch am Anfang bin. Im letzten Jahr habe ich viel Zeit damit verbracht, Sachen auszuprobieren, von denen ich bisher dachte, dass ich darauf keine Lust habe. Deshalb ist bis jetzt viel Ausschussware dabei. Aber es bringt mich auf einen Weg und schiebt mich in eine Richtung. Jetzt hab ich einen Block von Songs fertig, die in eine Richtung gehen, und es sieht so aus, als müsste ich noch mal ran und bei Null anfangen. So war es beim letzten Album auch. Ich hatte das Album ein Jahr fertig, bevor es dann tatsächlich fertig war. Es hat sich rausgestellt, dass ich plötzlich ganz andere Musik machen möchte, und es kamen andere Songs dazu, wie eben „Maria in Blau“ oder „Kuppel“. Die Platte war vorher einseitiger. Ich mag es, wenn die Platte mehrere Facetten hat. Das funktioniert aber nur, wenn man über einen längeren Zeitraum daran arbeitet und die fertigen Sachen zur Seite legt und noch mal ganz von vorne anfängt und alles am Schluss zusammen kompiliert. Es wird noch viel passieren müssen, bis das eine Platte wird.

Gibt es einen Unterschied in der Herangehensweise an die Musik zwischen All diese Gewalt und deiner anderen Band Die Nerven?

Wenn bei Die Nerven eine musikalische Idee nicht zündet, dann zündet sie halt nicht und wird weg geschmissen. Wenn bei All Diese Gewalt eine musikalische Idee nicht zündet, dann liegt es meistens daran, dass sie nicht ausgearbeitet ist. Der Ansatz bedingt das Resultat. Bei Die Nerven ist das sowieso grundverschieden, weil die Musik im musikalischen Dialog zwischen uns drei passieren soll. Wenn ich nicht mit den Jungs zusammen Musik mache, schreibe ich halt die Texte für die Band. Das ist natürlich ein ganz anderes paar Schuhe, welche Texte ich für All diese Gewalt und welche für Die Nerven verwende und welche überhaupt nicht als Musiktexte taugen.

Weißt du schon beim Schreiben einer Textzeile wofür du sie verwenden wirst?

Das ist unendlich prekär. Man weiß nie, ob es jemals Einsatz findet oder was daraus wird. Das finde ich eigentlich ziemlich spannend.

Im letzten Jahr bist du von Stuttgart nach Leipzig gezogen, um dir dort ein Studio aufzubauen. Wie hat der Schritt deine Arbeit verändert? 

Grundlegend. Ich kann viel besser arbeiten. Es gibt keine Einschränkung mehr, was die Lautstärke angeht. Eine der wichtigsten Sachen ist, dass es ruhig ist. Ich kann mir ein Schlagzeug aufbauen. Ich kann um drei Uhr morgens meinen Gitarrenverstärker anmachen. In Stuttgart hab ich zwei Jahre in einem Zimmer gewohnt, das direkt an einer Einfahrtsstraße von der Autobahn in die Stadt lag, da war immer Verkehr und ich konnte keine filigranen leisen Dinge aufnehmen. Dazu musste ich immer die Räume wechseln. Das war eine Katastrophe.

Gerade arbeitest du am neuen Album von Drangsal mit. Letztes Jahr hast du mit „Fatal schwach“ von Friends Of Gas ein starkes Album produziert. Siehst du dich da als der Kopf einer gewissen Szene in Deutschland?

Daran denke ich überhaupt nicht, weil ich mich nicht einschränken lassen möchte. Ich möchte nicht repräsentativ für dies und jenes stehen, so wie Campino für Punkrock-Schlager steht. Ich will das alles flüssig halten. Mir die Möglichkeit offenhalten selbst eine Schlagerplatte zu machen. Oder eine Funkplatte.

 

„Welt in Klammern (Addendum)“ erscheint am 5. Mai 2017 bei Staatsakt. Ebenfalls am 5. Mai spielt All diese Gewalt live im Wiener Rhiz und am 23. Juni kann man die Band im Rahmen von Dawn im Rockhouse Salzburg sehen und hören. Für den Gig im Rhiz verlosen wir hier übrigens noch Tickets. 

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