Der verlorene Wasserkopf

Die Moderne entwurzelt die Tradition, um kurz darauf im neuen Konservatismus unterzugehen. Sozialdemokratie versus Ständestaat. Asphalt gegen Scholle. Bubikopf oder Gretelfrisur? Das Wien Museum zeigt im Künstlerhaus die Ausstellung „Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930“.

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Die Bananenrock-Nummer ist legendär. Mit dem von Jean Cocteau kreierten Revue-Kostüm feiert die amerikanisch-französische Tänzerin und Sängerin Josephine Baker triumphale Bühnenerfolge. Ganz New York liegt ihr zu Füßen. Als sie in Wien auftreten will, fordern die Nationalsozialisten ein Auftrittsverbot. In den Kirchen werden Sondergottesdienste „als Buße für schwere Verstöße gegen die Moral“ abgehalten. Die bürgerliche Elite formiert sich gegen die „billige“ Unterhaltungskultur. Der Kampf um die Stadt ist in vollem Gange. An den verschiedensten Fronten. Aber wem gehört sie eigentlich, die Stadt?

Es ist 1928. Halbzeit im kurzen Leben der Ersten Republik. Wien will eine Metropole sein, will die Josephine Bakers der Welt auf ihren Bühnen sehen, will Wolkenkratzer bauen und ins Kino gehen. Urbane Konzepte, die uns heute selbstverständlich erscheinen, werden zu dieser Zeit begeistert entdeckt. Es sind entscheidende Jahre um 1930, in denen die Zukunft der jungen Republik auf der Kippe steht, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Aufbruch und Reaktion. Auf der einen Seite regieren Schnelligkeit und Modernität, auf der anderen Seite Arbeitslosigkeit und Not. Wien ist ein Sündenpfuhl, eine „verjuderte Stadt“, der Wasserkopf der Republik, voll von roten Funktionären – so sieht es zumindest der christlich-sozial geprägte Rest von Österreich.

Politische Utopien und latente Radikalisierung

Diese Zeit der Widersprüche und Ambivalenzen, die sich in der offenen Konfrontation der politischen Lager genauso widerspiegeln wie in den teils unüberwindbaren Grenzen zwischen den herrschenden Lifestyles, steht im Fokus der Ausstellung „Kampf um die Stadt“, mit der das Wien Museum – und allen voran Museumsdirektor Wolfgang Kos, von dem die Idee und das Konzept für die Ausstellung stammen – eine umfassendes zeitgeschichtliches Projekt realisiert hat. Dass Wien den Kampf um die Stadt 1934 verlieren wird, dass die Zukunft Faschismus, Hitler und Krieg bedeutet, das wissen wir – nicht aber jene Menschen, die in den 20er und 30er Jahren in eine von 65.000 neuen Gemeindebauwohnungen einziehen, die sich ihr erstes Radio kaufen, die erst lernen müssen, wie man sich im motorisierten Straßenverkehr bewegt oder jene, die sich als deutschnationale Wandervögel, katholische Neuländer, Sozialisten oder junge Zionisten politischen Utopien und latenter Radikalisierung hingeben. Noch ist der Kampf um die Stadt nicht entschieden. An zwei neuralgischen Schauplätzen überlagern sich die Konfliktlinien: auf der Straße und in den Massenmedien. „Auf die Straße zu gehen und Forderungen zu stellen, war schon immer ein wichtiges Element der Arbeiterbewegung. Aber auch die katholische Kirche hat beispielsweise mit ihren Fronleichnamsprozessionen den Glauben nach draußen transportiert“, sagt Béla Rásky, der als Historiker die Ausstellung mitgestaltet hat. „In den 1920er Jahren wird die Inszenierung dieser Aufmärsche immer stärker. Gleichförmigkeit, Uniformiertheit und Symbolik bekommen eine unglaubliche Bedeutung.“ Es sind die Bilder, die heute verstörend beeindruckend auf uns wirken. Gigantische Formationen turnen, marschieren und agitieren im Gleichschritt. Vor allem die (Partei-)Jugend wird für diese Zwecke rekrutiert – eher widerwillig, denn die jungen Sozialisten beispielsweise, die hoch organisiert für die Modernisierung der politischen Strukturen auftreten, wollen den Kampf um die Stadt nicht als Diener des klassischen Parteiapparates führen, sondern mit Hilfe der neuen Medien. In den Kinos und im Radio spielen sich die wahren Masseninszenierungen ab. Peter Eppel, Kurator im Wien Museum und Spezialist für Geschichte und Stadtleben nach 1918, sieht die Jugend an sich als wichtigen gesellschaftspolitischen Faktor, der gewisse Tendenzen der späteren fortschreitenden Radikalisierung bereits vorwegnimmt:

„Der ’neue Mensch‘, die Jugend steht vielfach im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Die Jungen treten jedoch gegen das bürgerliche Establishment an. Mit Wimpel und kurzer Hose geht man in die Natur und sucht dort eine heile Gegenwelt zur Großstadt. Deutschnationalistische Ansichten, die durch alle Parteien stark verbreitet sind, spielen eine große Rolle.“ Der Wanderschritt geht in den Stechschritt über. Die Lager militarisieren sich. Wo der Kampf für einige erst beginnt, ist er eigentlich schon verloren.

„Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930“ ist bis 28. März in der temporären Wien Museum-Außenstelle Künstlerhaus (1., Akademiestraße 13) zu sehen.

www.wienmuseum.at

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