Eine Angst wäscht die andere

In einem nicht offiziellen Youtube-Schnipsel der ORF-Casting-Show „Die große Chance“ führt Rapper Sido den Krone-Kolumnisten Michael Jeannée samt der ganzen grindigen Haute Volée des Landes vor. Verkörpert von Zirkusdirektor Bernhard Paul: Österreich wie es leibt und lebt.

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Offensichtlich bedarf es eines distanzierten deutschen Gast-Promis aus dem märkischen Viertel ohne „Verständnis“ für die hiesige mediale Verhaberung und die Macht der Kronen Zeitung, um uns vor Augen zu führen, warum dieses Land „funktioniert” wie es eben funktioniert.

(Um dieses Youtube-Video geht es, Anm.)

Viele sehen in Sido „mittlerweile einen ziemlich coolen Typen“. Ich finde seine Derbheit („Arschficksong“) eh auch ganz amüsant, aber eigentlich ist er mir schlicht eines: egal. Trotzdem muss man dem Aggro-Rapper aus Berlin dankbar sein, weil er sich insgesamt – wie es in Wien so schön heißt – einfach „nix scheißt“. Sein Ton ist unfreundlich, seine Kritik gnadenlos, der Typ einfach rüpelhaft. Und genau deshalb hat der ORF den Berliner Star-Rapper ja auch als Kommentator und zeitgemäßes Dieter-Bohlen-Double mit Street Credibility in den österreichischen Hauptabend importiert. So weit, so uninteressant. Man kann ja immer noch wegschalten.

Viele werden das vermutlich auch tun, sollte der Auftritt von zwei schrulligen Monsieurs wirklich noch auf Sendung gehen. Denn die Performance eines gewissen Michael Jeannée und seines befreundeten Motorsägenimitators vor den Juroren der Castingshow bietet kaum Unterhaltungswert. Es mag peinlich sein, wenn zwei alte Herren eine b’soffene Idee vom Vorabend nüchtern, aber Ego-trunken auch wirklich durchziehen. Aber im Grunde handelt es sich um eine langweilige, unaufregende Passage, die es üblicherweise – zu Recht – niemals in den Sendungszusammenschnitt geschafft hätte. Nicht einmal ein Michael Jeannée selbst hätte sich – in seinen offenen Krone-Briefkolumnen sonst für keinen erniedrigenden und menschenverachtenden Untergriff zu schade – herabgelassen, solch jämmerliches Laienspiel zu kommentieren.

Nun aber wäre „Die große Chance“ nicht öffentlich-rechtlich, würde sie nicht auch noch einen Bildungsauftrag erfüllen. Und so hilft uns die Sendung, unsere kleinformatige Welt für ein paar Augenblicke zu verlassen und über den Tellerrand blicken. Sido sei Dank – und einem YouTube-User namens „Superjeanée“, der das ungeschnittene Rohmaterial der ORF-Show veröffentlicht hat. Ein mutmaßlich angewiderter ORF-Mitarbeiter wollte dieses erbärmliche Trauerspiel hinter den Kulissen nicht mehr länger ertragen. Und mehr als 18.000 Menschen sind seiner Einladung, sich an diesem Dokument des Duckmäusertums zu ergötzen, bislang bereits gefolgt.

Austriakisches Mittelmaß

Man muss dieses Video zwar nicht gesehen haben, aber es ist doch sehenswert – weil aussagekräftig und bezeichnend für das Mittelmaß, das dieses Land dominiert, regiert und versaut. Nicht wegen Michael Jeannée und seinem singenden Sägefreund. Sondern wegen Sidos Ko-Juroren, die den Auftritt von Jeannée total daneben und sicher auch sehr sehr sehr peinlich fanden. Sich das aber nicht wirklich zu sagen trauten – aus Angst, der Schreiberling möge ihnen das mit fiesen Kommentaren im auflagenstärksten Medium des Landes danken. Einer der Juroren – „Roncalli“-Direktor Bernhard Paul – argumentiert das sogar vor laufender Kamera und führt den unbedarften Sido und das YouTube-Publikum auch gleich in die austriakische Medienunkultur ein. Denn, so der Zirkusdirektor: „Der Kollege ist eigentlich Journalist, der dich auch morgen fertigmachen könnte“. Er und eine zweite Jurorin (die Sängerin Zabine) plädieren deshalb dafür, dem Clown-Duo in der Sendung eine zweite Chance zu geben. Wie man lautstark hört: sehr zum Unmut des Publikums.

Natürlich: Diese Sendung ist absolut egal, ein irrelevanter Nebenschauplatz. Doch der auf YouTube gelangte Videoausschnitt demonstriert wunderschön, wie in diesem Land von Niederungen und Nebenschauplätzen aus Politik, Geschäfte und Meinung gemacht wird. Er verdeutlicht wie duckmäusernd seine „Elite“ funktioniert: eine lächerliche Spalte in einem mächtigen 1.0-Medium wie der Kronen Zeitung als das Maß aller Dinge.

Vom Zirkusdirektor, der aus Angst vor einer massenmedialen Retourkutsche den größten Scheiß für gut befindet bis zum Kanzler, der sich in Anzeigenkampagnen von staatlichen Unternehmen auf Kosten der Allgemeinheit bejubeln und feiern lässt, ist es da nicht mehr weit. Maximal bis zum nächsten Heurigen.

Danke, Sido! Willkommen in Österreich!

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