Ich war zwölf, als die Mauer fiel. Im Sommer darauf packte unser Vater die Familie ins Auto und wir fuhren über Prag, Dresden und Leipzig nach Berlin.
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Ich habe nicht richtig verstanden, was im November 1989 passiert ist und warum das Verschwinden einer Ideologie so bedeutend war. Zwar lernten wir in der Schule über Kolchosen und Sowchosen, Planwirtschaft, Warschauer Pakt und Kommunismus, aber das war doch alles sehr abstrakt. Und den Eisernen Vorhang, die Teilung Europas, fand ich als junger Mensch nicht weiter tragisch. Denn wo immer wir als Ostösterreicher an der Grenze zum Osten standen, war diese eher unscheinbar. Dass man kaum hinüber konnte, fand ich nicht weiter tragisch, ich fuhr eh lieber an die Adria. Und Kontrollen gab es auch beim Übertritt in die westlichen Nachbarländer.
Aber im Sommer 1990 in Berlin begriff ich, dass die Teilung Europas mehr war als das diffuse Wissen, eine Grenze nicht überqueren zu können. Denn in Berlin konnte man deutlich erkennen, dass man sich mit der Teilung Europas gehörig Mühe gegeben hat: Die Mauer stand zum größten Teil noch. Umgeworfene oder entfernte Mauerteile schufen provisorische Durchlässe. Die ehemaligen Wachtürme wurden als Aussichtstürme benutzt. Auf den Autobahneinfahrten nach Westberlin existierten unbenutzte Grenzkontrollanlagen. Die S-Bahn-Linien des Westens, die auf ihrer Fahrt ehemaliges Ostgebiet durchfuhren, blieben in seit Jahrzehnten gesperrten Stationen im Ostteil immer noch nicht stehen.
Nach dem Kollaps der UDSSR sah es überhaupt so aus, als ob Mauern dauerhaft verschwinden könnten und Grenzen überwindbar werden.
Stumme, vielsagende Bilder
Doch mit dem Verschwinden der Grenzen, Mauern und Grenztürme mitten durch Europa war das Problem nicht aus der Welt. Es verlagerte sich bloß an die Ränder unserer Wahrnehmung. Und heute erleben Grenzbefestigungen überhaupt eine Renaissance. Acht dieser alten, neuen und im Fall der Berliner Mauer auch aufgelassenen Trennlinien beleuchtet der Bildband "Confrontier" des mehrfach preisgekrönten Fotografen Kai Wiedenhöfer. Es sind Grenzen zwischen Staaten, Ideologien, Religionen und/ oder Arm und Reich, die der Fotograf in jahrelanger Arbeit dokumentiert hat. Abseits von einigen Denkanstößen und Fakten (besonders interessant ist die Aufzählung, wo abseits der im Buch gezeigten Fälle noch massive Grenzen existieren) kommt der englischsprachige Bildband so gut wie ohne Text aus. Den braucht man auch nicht. Diese Bilder vermitteln eindrucksvoll, was es bedeutet, an so einer Grenze zu stehen, oder schlimmer noch, mit so einer Grenze leben zu müssen.
Die Reise startet – zumindest historisch betrachtet, denn im Buch selbst gibt es keine Ordnung – an der Berliner Mauer. Deren Fall hat der Fotograf als Student live miterlebt und fotografiert. Von der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze stehen nur noch kurze, museal erhaltene Stücke. Die Gedenkstätte Berliner Mauer dokumentiert auf einer Länge von rund einem Kilometer das letzte Stück Grenze, das sowohl im Original als auch in seiner vollen Breite erhalten ist. War doch die Mauer nicht bloß eine Mauer, sondern eine breite Schneise durch die Stadt. Im rund 50 Einwohner zählenden Dorf Mödlareuth zeigt das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth einen Beobachtungsturm und 700 Meter der Mauer und des Metallgitterzaunes im Original am Originalschauplatz.
Mauern als Attraktion
Nordirland und Zypern sind Länder, in denen tatsächlich schon jahrelang Mauern stehen. In Belfast und anderen nordirischen Städten trennen so genannte Peace Lines seit 1969 Katholiken und Protestanten. Laufend kommen neue hinzu. Diese Mauern und Zäune sind bis zu mehrere Kilometer lang, haben zum Teil stets geöffnete Tore und gelten mittlerweile als Sehenswürdigkeit. Die Bevölkerung Belfasts, so heißt es, möchte diese Trennlinien unbedingt behalten.
Seit 1974 ist die Insel Zypern in die Republik Zypern und die Türkische Republik Nordzypern geteilt. Zwar ist 2004 eine Wiedervereinigung inklusive gemeinsamen EU-Beitritt gescheitert, aber immerhin werden seit 2003 wieder Grenzübergänge geschaffen. Als besonders wichtiges Zeichen gilt die Eröffnung eines Übergangs in der Ledrastraße, einer belebten Flaniermeile.
Die Grenze, die die beiden Koreas seit 1953 teilt, ist die letzte nahezu unüberwindbare Grenze zwischen den ehemaligen Blöcken Ost und West und ein Relikt des Kalten Krieges. So wie es aussieht, wird sich dort auch so bald nichts ändern.
Relativ neu sind die enormen und schwer bewachten High-Tech-Befestigungsanlagen der in Marokko gelegenen spanischen Städte Ceuta und Mellila, die afrikanische Flüchtlinge vor der Einreise in die EU abhalten sollen. Die neuen, sechs Meter hohen Zäune in drei Reihen samt Infrarotkameras ersetzen ältere Modelle, die regelmäßig überwunden wurden. Trotzdem gelingt es Flüchtlingen auch heute immer wieder, über die Zäune zu klettern oder diese zu umschwimmen.
Zäune und Mauern finden sich auch an der amerikanisch-mexikanischen Grenze (3000 Kilometer lang; bis jetzt geschätzte 5000 Tote beim Versuch, die Grenze zu überqueren), Mauern trennen Israelis von Palästinensern und Sunniten von Schiiten in Bagdad.
Beim Betrachten der enorm ausdrucksstarken Bilder taucht unweigerlich die Frage auf: Wozu das alles? Und wie lange wird das noch so gehen? Vom Eisernen Vorhang blieben ein 8400 Kilometer langer Radweg quer durch Europa und ein paar Gedenkstätten. Die Berliner Mauer kann man ebenfalls mittels Radweg erkunden. Was wird von den anderen Mauern weltweit bleiben? Im besten Fall ziehen sie Touristen an wie die große Mauer in China. Im schlimmsten Fall bleiben sie einfach stehen und tun das, wozu sie gebaut wurden, sie trennen Menschen.
"Confrontier" von Kai Wiedenhöfer erscheint im Oktober im Steidl Verlag.