Lehrende wissen nur selten, was die Auszubildenden in sozialen Netzwerken so treiben. Auch partizipative Medien erfordern eine wache Medienkompetenz, die in den Schullehrplänen noch gar nicht vorgesehen ist. Schafft es das Bildungssystem, mit der medialen Entwicklung mitzuhalten? Oder kann man Medienkompetenz nur auf der »Straße« lernen?
Digitale Stiefkinder
Medienkompetenz und Digital Literacy haben eines gemeinsam: Beide Begriffe beinhalten, wenn man sie ernst nimmt, mehr als bloß die Fertigkeit, mit Medien, ob analog oder digital, umzugehen. Diese Fertigkeit ist bei den meisten in Österreich lebenden Kindern und Jugendlichen durchaus ausgeprägt (vgl. Prenskys »Digital Natives«). Was jedoch bei der achtlosen Verwendung von Medienkompetenz und Digital Literacy untergeht, ist der Umstand, dass diese Kompetenz/Literacy nicht bloß die soeben erwähnte Fertigkeit beinhaltet, sondern auf die reflexive bzw. kritisch/analytische Fähigkeit verweist. Dabei wäre es sogar durchaus logisch, Medienkompetenz und Digital Literacy als einen Kompetenzkomplex zu betrachten, denn die Unterscheidung im Umgang mit analogen und digitalen Medien wird durch den Zusammenfall (Konvergenz) ohnehin obsolet. Dass die Kommunikation mit digitalen Medien in sozialer Hinsicht viele neue Herausforderungen an die Gesellschaft stellt, sei hier natürlich unbestritten. Selbstverständlich wäre die Vermittlung von Medienkompetenz in der Schule eine wichtige Aufgabe. Die Auseinandersetzung mit medialer Realität ist seit jeher TeiI einer verantwortungsvollen Pädagogik gewesen, die Lehr/Lerninhalte fast immer durch Medien (Sprache, Bücher, Bilder usw.) präsentiert. Erst im 20. Jahrhundert hat der reflexive Umgang mit den neuen technischen Medien das Bewusstsein geweckt, dass diese Inhalte nicht die sogenannte Wirklichkeit 1:1 wiedergeben, sondern diese konstruieren. Dieses Bewusstsein ist auch im 21. Jahrhundert bei den Verantwortlichen und damit auch in der Öffentlichkeit viel zu wenig ausgeprägt – und die Heranführung zur Medienkompetenz im Bildungswesen daher nicht so intensiv, wie es angesichts der Informationsflut notwendig und wichtig wäre. Was ist zu tun? Die EU-Empfehlung der Medienkompetenz empfiehlt allen Mitgliedsstaaten Inhalte von Medienkompetenz in die Grundausbildung aller zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern zu integrieren. Mit diesem Schritt wäre zumindest ein Anfang gemacht. Susanne Krucsay, 66, ist Mitglied der Steuerungsgruppe des European Charter for Media Literacy, war früher Leiterin der Abteilung Medienpädagogik/Bildungsmedien/Medienservice im Unterrichtsministerium, 16 Jahre lang Leiterin eine Gymnasiums und bis vor Kurzem Chefredakteurin der Zeitschrift »Medienimpulse«.
Lesen heißt nicht notwendigerweise verstehen
Die Erörterung der Frage, ob Media Literacy in Schulen vermittelt werden soll bzw. kann, weist eigentlich auf ein lange bestehendes anderes Defizit im Bildungssystem hin, das durch eine Verlagerung des breit zugänglich gemachten Wissens ins Digitale erst an die Oberfläche tritt. Schule kann in der kurzen Zeit, in der sie von Menschen besucht wird, immer nur die Grundlagen für den individuellen Wissenszuwachs liefern. Und diese Grundlagen beziehen sich natürlich auf die Methode und nicht auf die Inhalte. Es ist ganz einfach: Sobald ich lesen gelernt habe, kann ich alles lesen. Vorausgesetzt ich verstehe, was ich lese, steht mir sämtliches (zumindest schriftlich vermittelbares) Wissen der Welt offen. Analog dazu verhält es sich bei digital konsumierbaren Inhalten. Aber wie ein Computer zu bedienen ist und wie und wo ich online Dinge finde, um ein Unterrichtsfach abzudecken, wäre als Antwort auf die Frage der Media Literacy ein wenig zu trivial. Wie eine Bibliothek und ein Buchgeschäft funktionieren, haben wir in der Schule auch nicht gelernt. Über die Bedienung der Zugänge brauchen wir nicht reden, denn selbstverständlich muss das schon im Volksschulalter vermittelt werden, wenn wir keine Generation digitaler Halbbildung erzeugen wollen. Die Fertigkeit im Umgang mit digitalen Medien muss eine Option für alle Kinder sein. Aber lesen heißt nicht notwendigerweise (richtig) verstehen. Das eigentliche Defizit besteht andernorts und leider schon viel länger: Es findet keine Vermittlung einer kritischen Methode statt. Niemand leitet Schulkinder dazu an, wie mit der Glaubwürdigkeit von Quellen zu verfahren ist. Niemand erläutert, wie Medien an sich funktionieren. Niemand stellt die Frage »Cui bono«. Media Literacy ist daher, genauso wie die Lehrinhalte an sich zunächst auf ihre systemischen Grundlagen zurückzuführen. Es ist an der Zeit, Kindern endlich auch ein gerüttelt Maß Skepsis mit auf den Weg zu geben. Dann ergibt sich Media Literacy von selbst. Niko Alm, 35, ist Geschäftsführer der PR- und Social Media-Agentur Super-Fi und Herausgeber des Vice Magazines. Außerdem ist er Teil der österreichischen Twitteria (@NikoAlm)
System wandelbar, aber träge
Es wird immer neue(re) Medien als die in der Schule vermittelten geben. Vor Facebook und Konsorten gab es Blogs. Davor gab es überhaupt erstmal das Internet und davor Fernsehen, Radio und Zeitung. Einige dieser Medien haben es in die Schule geschafft. Im Deutschunterricht beispielsweise wird vermittelt, wie man einen Artikel schreibt und wie eine Zeitung gegliedert ist. Es gibt sogar ein eigenes Fach, in dem einige Grundsätze der Informatik gelehrt werden. Doch die ganz neuen »Dinge« werden sich wohl nicht so schnell in den Lehrplänen finden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Schulsystem veränderbar ist, aber leider auch sehr träge. Yi Q. Chen, 17, ist Schüler am BORG 3 in Wien. Zusammen mit anderen betreibt er den Blog borg3.bgreen.at, der sich auch für die abschiebegefährdete Mitschülerin Araksik Manukian einsetzt. Er ist Stipendiat des START-Stipendiums für engagierte Schüler mit Migrationshintergrund.
Hilfe!
Kaum ein Volksschullehrer, kaum eine Volksschullehrerin kann die Möglichkeiten der aktuellen medialen Entwicklung sinnvoll im Unterricht nutzen. Die Lücke, die Aus- und Fortbildung hinterlassen, kann zurzeit nur durch persönliches Engagement gefüllt werden. In meiner »iPod+Klasse« erlebe ich täglich Momente, in denen Schüler mit Sicherheit, Konsequenz und Motivation Lernziele leicht erreichen, ermöglicht u.a. durch den angeleiteten Umgang mit Wikipedia und Apps im Schulalltag. Wer genau schaut erkennt auch bald, dass die mediale Entwicklung längst in der Welt der Kinder Einzug gehalten hat. Nur – wer unterstützt sie bei den ersten Schritten in die mediale Realität, gibt Halt, hilft auf, motiviert, ermahnt, beratet und beschützt? Peter Sykora, 41, ist Grundschulpädogoge in Wien und Begründer des iPod-Projekts zur Vermittlung von Medienkompetenz an Volksschulen. www.school4u.at/ipod
Verantwortung von Anfang an
Kinder und Jugendliche verbringen immer mehr Zeit im Internet – Social Media und das Web 2.0 sind nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule zunehmend präsent. Das Lernen findet verstärkt online und mit Unterstützung elektronischer Medien statt. Ein Trend, dem wir uns, sowohl als Eltern als auch als Unternehmer, nicht verschließen können – und auch gar nicht wollen. Ich persönlich als Vater sehe jeden Tag, dass sich Kinder stark mit dem Internet und dem Unterhaltungs- und Informationsangebot darin beschäftigen (müssen). Sei es im Rahmen der Hausübungen, Recherchen oder einfach, um sich über Facebook mit Mitschülern und Freunden auszutauschen und sich über Online-Games zu matchen. Unzweifelhaft stellt das Internet und die neuen Medien mit all ihren Inhalten eine neue Art des Lernens und auch des »Socialising« – der Interaktion – dar, sowohl zwischen den Schülern selbst, als auch zwischen Schülern-Lehrern bzw. Schülern-Eltern. Man kommuniziert schneller, effizienter, findet rasch Wissen und Informationen – dies kann recht hilfreich sein – allerdings setzt dies einen Grad an Medienkompetenz und somit richtigen und reflektierten Umgang mit den neuen Medien voraus. So rasch sich die virtuelle Welt verändert und weiterentwickelt, so schnell und dringend sind die Anforderungen an uns, uns in der »realen Welt« mit diesen Entwicklungen auseinanderzusetzen und sie immer wieder neu zu hinterfragen und somit den Jüngsten und Jungen ein Vorbild zu sein. Als Unternehmer ist es mir wichtig, dass Saturn – mit einem engagierten Lehrlingsausbildungsprogramm – nicht nur als verantwortlicher Arbeitgeber überzeugt, sondern auch unseren Kindern und Jugendlichen gegenüber Verantwortung übernimmt. So trägt unser Unternehmen dem Trend zu stetig steigernder Online-Nützung der neuen Generation der »Digital Natives« Rechnung und rief daher einen eigenen Schulwettbewerb ins Leben. Thomas Pöcheim, 41, ist Vater und seit drei Jahren Geschäftsführer von Saturn in Österreich. Saturn ist Initiator des Schulwettbewerbs 2010/2011: »(Online-) Medienkompetenz: Fit für Social Media & Co« www.saturn.at/challenge
Nach dem Jahrhundert der Massenmedien kommt das Jahrhundert der partizipativen Medien gerade in Gang. Wer einen Computer bedienen kann, kann eine eigene Medienplattform betreiben. Zumindest der Theorie nach gibt es also eine Demokratisierung der Medien. In der Realität ist es aber oft so, dass Medien zwar genutzt werden, aber die Kompetenz, ihre Möglichkeiten sinnvoll umzusetzen, wird nirgends vermittelt. Geschweige denn der mündige Konsum. Klare Ansprechpartnerin wäre hier natürlich die Schule. Allerdings ist eine umfassende Medienbildung nicht unbedingt Teil des regulären Schulunterrichts. Oft können die Lehrenden nicht mit der schnellen Entwicklung mithalten und das Schulsystem selbst scheint von dieser Geschwindigkeit gänzlich überfordert. Es sind Initiativen von Einzelpersonen, die versuchen, profunde Kenntnisse über die Medien zu vermitteln, wie ein Lehrer an der »Schule im Park« in Wien, der seine 3. Volksschul-Klasse mit iPods ausgestattet hat und zusammen mit den Schülern alternative Lernmethoden erforscht. Oder es gibt junge Autodidakten, die sich Medienkompetenz selbst aneignen. Beides sind allerdings Best-Practice-Beispiele und eher die Ausnahme.
Teilweise stoßen sogar Konzerne mit eigenen Initiativen vor, um die Lücke in der Medienkompetenz zu schließen. Wenn Konzerne aber in die Bildung eingreifen, passiert das nicht uneigennützig und löst gemischte Gefühle aus. Dennoch leisten ihre Projekte einen wichtigen Beitrag zu Medienbildung. Immerhin soll geklärt werden, was im Netz erlaubt ist und was nicht und wie man sich selbst und die eigene Privatssphäre schützt – wichtige Fragen, vor allem für junge Mediennutzer. Doch: Wäre die Beantwortung dieser Fragen nicht eigentlich die Aufgabe des Bildungssystems? Kann das System mit dem schnellen Wandel der Medienwelt mithalten oder muss die Vermittlung von Medienkompetenz Konzernen überlassen werden? Oder verhält es sich mit Medienkompetenz ja auch wie mit HipHop – man kann sie nur auf der Straße lernen. Dann herrscht dort aber – um im Bild zu bleiben – auch ganz klar das Recht des Stärkeren.
Die Recherche für diesen Wortwechsel macht die gesellschaftspolitische Dimension von Medienkompetenz deutlich – immerhin fordert die digitale Agenda der EU ihre Mitgliedsstaaten auf, bis 2011 eine langfristige Politik für digitale Kompetenzen umzusetzen. Dennoch entwickeln sich Realität und Schulsystem mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es ist wohl die Gesamtheit aller staatlichen, privaten und persönlichen Initiativen, die die Hoffnung auf eine fundiert mediengeschulte, mündige Gesellschaft aufrecht erhält.
Im April 2011 wird sich übrigens der Kongress »Kinder und digitale Medien« (veranstaltet von der Wiener PR-Agentur Cox Orange) mit der Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen beim Medienverständnis beschäftigen. Weiterführendes auf span lang=“DE-AT“>www.thegap.at/wortwechsel