Statt sich als Nabel der Welt zu präsentieren, schweifen Tocotronic auf ihrem neuen Album in universelle Themen ab – und beweisen damit, dass ein autobiografisches Album viel mehr sein kann als plumpe Nabelschau. Unendlich viel mehr.
Wie kam das beim Rest der Band an, als du beschlossen hast, aus dem nächsten Album eine autobiografisches Album zu machen?
Die Idee ein autobiografisches Album zu schreiben, kam mir so im Laufe der Tour, die wir mit dem Roten Album gemacht haben. Auch auf dem Roten Album waren schon zwei Songs, die autobiografischen Charakter hatten, »Jungfernfahrt« und »Date mit Dirk«. Es ist einfach so, dass man vor allem auf Tour viel Zeit zum Nachdenken hat. Die Idee, ein autobiografisches Projekt zu starten wuchs immer mehr. Ehrlich gesagt habe ich erstmal versucht es geheim zu halten und nur für mich zu machen. Aber lange habe ich es dann nicht ausgehalten und Jan sehr schnell in das Vorhaben eingeweiht. Einfach um mal vorzufühlen, wie das bei ihm so ankommt. Eben gerade wegen jener Problematik, die in der Frage ja schon so ein bisschen mitschwingt. Zu meiner Überraschung war er der Idee gegenüber total aufgeschlossen und hat mich sogar darin bestärkt das zu probieren. Im Winter 2016 hatten wir bei mir daheim ein Treffen, eine Art Kaffeekränzchen wenn man so will, da haben wir uns unterhalten und ich habe allen die Stücke mal auf der Akustikgitarre vorgespielt, um anschließend darüber zu diskutieren, ob das überhaupt für die Band in Frage kommt oder nur ein privates Projekt bleiben soll. Aber auch hier war ich überrascht, dass alle sehr aufgeschlossen waren und sich teilweise in den Songs auch wiedergefunden haben. Was nicht unbedingt zu erwarten war, da wir doch sehr unterschiedliche Biografien haben. Ich bin in einer westdeutschen Kleinstadt aufgewachsen, Jan und Arne dagegen in Hamburg, Rick in Maine bei Boston. Aber irgendwie gab es dann doch sehr viele Überschneidungen in den Biografien. Jedenfalls haben wir an diesem Nachmittag beschlossen, das gemeinsam zu machen.
Vermutlich auch weil dann ja doch viele Biografien oder Autobiografien immer auf denselben Elementen fußen – Verliebtsein, Angst, Einsamkeit, Tod …
Ganz genau. Ich hatte auch das Gefühl, dass das sehr universelle, oder sogar existentielle Themen sind und dass es eigentlich hauptsächlich eben um diese Themen geht oder um die Beschreibungen dieser Gefühle und Zustände, die teilweise auch widersprüchlich und mehrdimensional sein können. Die Form der Autobiografie ist ein geeignetes Medium dafür, genau diese Dinge rüberzubringen. Eigentlich geht es immer um diese Verfasstheiten, Erlebnisse und Erfahrungen und die sind dann doch sehr universell. Das ist auch der Grund dafür, weshalb wir es so gemacht haben, wie wir es gemacht haben – nämlich nicht als Nabelschau oder als narzisstische Selbstbespiegelung. Dafür ist mein eigenes Leben auch nicht interessant und exzeptionell genug. Und eigentlich geht es ja sowieso viel mehr darum in einen Dialog zu treten, innerhalb der Band, wie auch mit den Hörerinnen und Hörern.
Letztlich adaptiert man das Gehörte als Hörer oder Hörerin ja dann sowieso für sich und bezieht es unweigerlich auch auf sein eigenes Leben …
Das finde ich auch. Das gilt aber doch für Popmusik überhaupt und noch mehr als bei anderen Künsten ist es doch so, dass Popmusik nur so funktioniert oder auf diesem Weg so überhaupt erst zu Popmusik wird. So weit würde ich vielleicht gehen. Eben durch die Mitarbeit der Hörerinnen und Hörer und die Aneignungen der Songs, die dadurch entsteht. Und in dem Fall war es unsere Hoffnung als Band, dass das vielleicht sogar in besonderem Maße passiert. Wir geben ja gerade sehr viele Interviews und freuen uns immer zu hören, dass sich auch andere Leute in den Stücken wiedergefunden haben und uns ähnliche Erfahrungen erzählen, die wir uns dann genauso gerne anhören.
Ich habe mich, auch in der Literatur, schon oft gefragt, ob die Motivation für eine Autobiografie dann entsteht, wenn man sich selbst gerade besonders fremd oder sehr nahe ist?
Das ist eine spannende Beobachtung, ich würde es aber vielleicht nicht so sehr räumlich festmachen, sondern eher zeitlich. Ich hatte das Gefühl, dass das etwas ist, was ich nur jetzt hätte machen können. Welche genauen Vorgänge im Gehirn da mitspielen, weiß ich nicht. Es war vielmehr eben das Gefühl, dass ich das genau jetzt machen muss und dass es auch für die Band der richtige Zeitpunkt ist so ein Album zu machen.
Ist dieser Rückzug ins Private oder in die eigene Vergangenheit etwas, das gerade in politischen schwierigen Zeiten nachvollziehbar ist? Oder liegt gerade im Privaten sowieso viel Politisches? Das Stück »Hey Du« jetzt mal ausgenommen, das ja ein sehr expliziter gesellschaftskritischer Kommentar ist …
Ich würde Letzteres hoffen. Durch das biografische Schreiben oder einfach durch die Tatsache einer Forschungsreise ins eigene Leben, zeichnet man immer auch ein Gesellschaftsporträt. Die Grenzen zwischen Privaten und Politischem verschwimmen und gerade das finde ich an der Form der Biografie eben auch so spannend. Ich finde auch deshalb, dass es genau die richtige Form zur richtigen Zeit ist. Als Rückzug würde ich es deswegen nicht bezeichnen – eher als das Gegenteil davon, als Öffnung oder Offenlegung, durch die man eben auch stärker in einen Dialog mit den Hörerinnen und Hörern treten kann.
Dialog ist ein gutes Stichwort – die Texte sind im Vergleich zu denen der meisten Alben davor ja etwas weniger abstrakt und dafür um ein Vielfaches direkter – macht das den Dialog einfacher?
Aus der Erfahrung der zahlreichen Interviews, die wir momentan geben, kann ich sagen, dass das Sprechen über das Album sehr interessante Ergebnisse zu Tage fördert, die ich auch als ungemein gewinnbringend empfunden habe. Früher mussten wir sehr oft die collagenhaften, abstrakteren, vielleicht auch albernen Texte in den Interviews selbst deuten. Ich weiß, dass das in der Natur der Sache liegt aber es macht nicht immer unbedingt Spaß. Als Songwriter sollte man seine eigenen Stücke in Interviews nicht interpretieren müssen. Diesmal war es eher so, dass wenn man in einer direkteren Sprache über solch existenziellen Themen spricht, auch viel mehr zurückkommt. Sicher hatten wir am Anfang auch ein wenig Angst davor, weil man sich gerade mit solchen Stücken auch angreifbar macht und die Bewertung über die Songs hinaus geht und plötzlich dein ganzes Leben betrifft.
Ohne dich jetzt wieder in genau diese Situation der Interpretation bringen zu wollen, würde mich dennoch interessieren, ob Unendlichkeit etwas für euch ist, nach dem man sich sehnt oder eher etwas das Angst macht?
Für uns war es so, dass das Stück als eine Art Vorwort geplant war. Sozusagen als Versuch über Erinnerung und über das Erleben von Zeit als Individuum nachzudenken. Immer im Kontext von Musik, die für uns Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit miteinander verbinden kann. Mehr noch – die uns ins Unendliche transportieren kann. Deshalb kam uns das als Titel des Albums sehr schön vor. Zusätzlich ist das auch sehr schön paradox, denn jede Biografie zeichnet sich ja leider dadurch aus, dass sie endlich sind. Deshalb dachten wir uns, wenn wir ein autobiographisches Album machen, dann muss es unbedingt »Die Unendlichkeit« heißen.
Diese Möglichkeit eine an sich endliche Biografie doch irgendwie zu etwas Unendlichem zu machen, wird vielleicht auch durch das Medium Musik bedingt …
Ich glaube tatsächlich, dass das der Unterschied zur geschriebenen Autobiografie als Buch ist. Musik besitzt zusätzlich die Möglichkeit ins Spirituelle hinein zu transzendieren. Das ist eine Dimension, die das nur geschriebene Wort vermutlich nicht leisten kann. Dass sich etwas immer weiter schraubt, wie ein beeindruckendes Gitarrensolo, bei dem man das Gefühl hat, dass es eine kosmische Sphäre erreicht, funktioniert nur in der Musik. Vielleicht ein bisschen platt gesagt, dass man das Gefühl hat, man kann mit Musik die Sterne erreichen. Das haben wir am Cover des Albums ja auch grafisch festgehalten.
Ihr singt viel über Befreiung, Loslösung und Erlösung und wählt dafür als Rahmen doch ein recht starres Konzept. Können Strukturen auch befreiend sein?
Um nicht ins reaktionäre, nostalgische oder in die plumpe Nabelschau abzugleiten, muss unserem Gefühl nach als übergeordnetes Thema dieser Rückkehr auch immer die Möglichkeit einer Erlösung oder einer Befreiung da sein: Indem sich ein Individuum befreit, subjektiviert und sich von Zwängen löst. Das ist auch ein Grundthema des Albums. Deshalb ist es vielleicht auch auf subtile Art politisch, um noch einmal zu der vorigen Frage zurückzukehren – weil es immer auch um die Emanzipation des Individuums in Richtung eines freien, grenzenlosen Lebens geht. Das schwingt bei allen Songs immer zwischen den Zeilen mit. Zur anderen Frage: Das mag paradox klingen, aber für uns haben diese starren Konzepte und diese Gleichungen und Regeln und Manifeste prinzipiell immer etwas sehr reizvolles, weil sich innerhalb dieser Konzepte erst so etwas wie ein befreiendes Element entfalten kann. Nur wenn man sich solche Regeln oder Ordnungsprinzipien setzt, kann man diese auch überschreiten. Hat man gar keine, dann wird das Ganze auch schnell ein wenig schwammig. Bei jedem Album, egal ob das jetzt ein Konzeptalbum ist, oder nicht, ist ja ohnehin immer eine Ordnung vorhanden, weil ein Stück auf das andere folgt. Das kann man auch gleich zuspitzen.
Gibt es schon Highlights im kommenden Jahr?
Wir haben anderthalb Jahre, mit Unterbrechungen, an diesem Album gearbeitet, das Material dazwischen auch immer wieder liegen gelassen, sozusagen in den Gefrierschrank gesteckt und dann wieder rausgeholt, aber es war doch eine sehr intensive Beschäftigung. Mein Highlight ist also definitiv, dass es nun wirklich erscheint. Schließlich ist die Arbeit an gerade so einem Album auch nicht ganz unbelastend und man trägt das Nachdenken über das eigenen Leben auch immer irgendwie mit sich herum. Deshalb bin ich froh, dass wir das jetzt unseren Hörern übergeben können und sie damit machen können was sie wollen.
Wenn ihr einen Titel für eine Biografie eurer Bandgeschichte finden müsstet, wie würde der lauten?
Natürlich haben wir den Titel »Die Unendlichkeit« auch deshalb gewählt – mit Augenzwinkern – weil es uns schon seit 25 Jahren gibt. Das kommt uns oft schon wirklich unendlich vor. Gerade bei der Arbeit an so einem Album wird einem das dann auch wirklich bewusst, weil klar wird, dass man schon sein halbes Leben mit und in dieser Band verbracht hat. Und 25 Jahre sind, gemessen an manch schnelllebiger Karriere, auch einfach eine wirklich lange Zeit. Aber natürlich waren diese 25 Jahre auch ein unendlicher Spaß.
»Die Unendlichkeit« erscheint am 26. Jänner via Vertigo. Am 13.4. spielen Tocotronic im Republic in Salzburg und am 28.7. in der Arena in Wien.