Elektronische Nische in der Wüste neu asphaltiert

Was lange währt, wird endlich großartig. Über musikalische Irrfahrten und Schattengewächse, unglaubliche Paarungen und den endgültigen Verlust der Kindheit. Americana goes Electro und zurück.

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THE MESSAGE

Erwachsen ist man, wenn der Ernst des Lebens beginnt, so sagen manche. Andere sagen, erwachsen ist man, wenn man Kinder hat, um die man sich kümmern muss. Wieder andere sagen, man ist endgültig erwachsen, wenn die Eltern gestorben sind. Oder, wenn man begriffen hat, dass alles Leben mit dem Tod endet, auch das eigene. Zu guter Letzt sagen einige, der Moment, in dem man erkennt, dass man nun erwachsen ist, ist jener, in dem man erkennt, dass von dem Kind, das man einmal gewesen ist, in einem selbst nichts mehr übrig ist. Wenn man nicht mehr fähig ist ausschließlich im Hier und Jetzt zu leben, und nur noch im Gestern und Morgen existiert. Die Kindheit ist endgültig vorbei, wenn der kleine Junge oder das kleine Mädchen, das man einmal gewesen ist, aufgehört haben, zu existieren und nur noch als Echo einer Erinnerung wiederhallen. Und aus diesem Grund werden manche nie erwachsen, während andere bereits sehr früh diesen dunklen und unwegsamen Gang beschritten haben, das Dunkel in der eigenen Seele gesehen haben und wieder zurück gekehrt sind, an die Oberfläche der Angestelltenverhältnisse, der Kreditkarten und Pauschalurlaubsreisen, der Kantinenessen und Yogastunden und Online-Broker-Portale. Und ein junges Mädchen, dass mir in der U-Bahn gegenüber sitzt hat auf ihrem Cello-Koffer einen Kleber mit einem Zitat von John Lennon angebracht: „Leben ist das, was passiert, während ihr geschäftig Pläne macht, was ihr mit dem Leben anfangen sollt.“ Oder so ähnlich. Der Gedanke geht in der Übersetzung nicht unter.

Es ist der erschreckendste Abgrund, in den man schauen kann. Die Erkenntnis, dass grundlegende, wichtige Teile der eigenen Existenz vorbei sind. Man hat sie vorbei schweifen lassen, grundlos und sinnlos, weggeweht in die Endlosigkeit des Ewigwährenden. Unzurückholbar. Das Saldo des Zurückdenkens an das wann, das warum, das was und wo und wie ist immer nur Ernüchterung. Ob man nur vor sich hin gelebt hat oder ein Imperium geschaffen, ob man zur Erleuchtung gelangt ist oder das Böse / Gute in seiner Biographie verewigt hat, alles vergeht und wird vergessen. Der Wind der Zeit fegt alles und jeden hinweg. Morgen schon wird eine dreibeinige Kuh geboren oder ein Unfall inszeniert und schon erinnert sich niemand mehr an das was heute so wichtig war. „Yesterday is dead and gone, and tomorrow’s out of sight.“ ist leider nirgends mehr angesagt. Und im digitalen Zeitalter gibt es keine Pyramiden mehr, keine Weltwunder, kein für immer. Nur ein Nirvana, in dem sich alles verliert. Das zieht sich quer durch, vergilbt alle Knochen und zermahlt die blanken Reste, die im graublauen Wüstenstaub langsam bleichen und vergehen. Das Leben ist im besten Fall ein spätnächtlicher Bahnsteig, irgendwo im Niemandsland, wo man zusammen mit ein paar Übrig-gebliebenen und Verkommenen auf einen letzten Zug wartet, der, soviel ist klar, nicht dorthin fährt, wo man es gerne möchte, sondern Dich nur zu einem weiteren Bahnsteig in einer weiteren Nacht bringt. „Land of the Lost“. Staub.

THE MUSIC

„American Primitive“ von L/O/N/G, dem langjährig andauernden Projekt von Chris Eckmann (Walkabouts, Dirt Music, Steve Wynn Band) und Rupert Huber (Tosca) lebt in dieser nächtlichen, urbane Wüste und das macht sie besser als andere, die ebenfalls aus diesem so faszinierenden Leerraum gewachsen sind. Besser, weil sie besser als andere, die das auch versuchten, Abschiede und Differentiationen definiert und in allen Momenten funktioniert, in denen sich die private Existenz von der gemeinschaftlichen Realität ablöst (bevor sie sich sanft wieder annähert und auflöst). Besser auch, weil sie ganz banal auch die erste (dem Autor bekannte) gelungene Fusion aus Alternative Country bzw. Singer /Songwritertum und Electronic ist. Neues ist in unserer beliebigen und sinnlos gewordenen Welt, ein rasend rares Gut geworden, das in der Regel so schnell als möglich auf den Markt geworfen wird, um zerrissen und verscheuert zu werden. Was für ein Glück, das „American Primitive“ so sehr in der Nische entstanden und entwickelt wurde, dass es über Jahre ohne Probleme wachsen und gedeihen durfte, bevor jemand nach ihm seine Netze auswirft. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit bleibt sie erstmal auch dort. „American Primitive“ bleibt im hypernervösen Fokussieren der ewigen Selbstaffirmation der Musikblogs weitgehend unentdeckt, ein Schattengewächs.

Die Intro-Sequenz „That’s my sin, that how I win, start at the end, it’s the beginning again.“ setzt den Ton. Das Elektronik plus X Rezept ist bereits durch den gesamten musikalischen Kosmos gewuchert, vom Bio-Smoothie der Indietronic bis zum Premium-Bastard-Klassik-Mix, und nur die Ehrfurcht gebietende Weite der Prärie mit ihrer endlosen Gleichförmigkeit hat bisher dem digitalen Virus widerstanden. Dass ihr Fall nur eine Frage der Zeit war, war klar. Denn zum einen wird auch in der Wüste die Verehrung des Analogen weitgehend nur noch an der Oberfläche zelebriert während die Produktions- und Distributionsmittel bereits den neuen Strukturen unterworfen sind. Zum anderen coverte Bonnie Prince Billie bereits vor etwa acht Jahren Puff Daddy.

Hier nun der Schulterschluss zwischen Eckmann und Huber. Dass diese Novität nun aus der vielleicht finalen Auflösung der Walkabouts entstanden ist, der vielleicht wichtigsten Alt. Country-Band, die es jemals gab, nach mehr als zwanzig Jahren ihres Bestehens, das ist bemerkenswert aber nicht wichtig. Dasselbe gilt Nennergleich für Tosca und Wiener Elektronik im Allgemeinen. Die Coop folgt einer reziproken Logik der Historie der Protagonisten: Die Synthie-Tupfer von Glenn Slater unter den Young’schen Sound-geht-vor Gitarren Eckmann’s bei den Walkabouts sowie dessen dokumentierte Ausflüge in den Krautrock (i) einerseits und andererseits das Tosca’sche Beharren auf der Priorität Song vor Track. Und nun dieses tiefe, tiefgehende, tief greifende Werk, entstanden über mehrere Jahre und ein paar Menschen Hörstoff liefernd für viele Jahre mehr. Aber es wäre ein Wunder, wenn tatsächlich eine bemerkenswerte Menge an Menschen Interesse für „American Primitive“ aufbringt, und damit ist gemeint ebenso tiefgreifendes und ernsthaftes Interesse. Kein dreissig-sekündiges Aufflackern von Ironie über das Instrumental namens „Stockerau“, kein sekundengleiches „I like this“ und sofortiges Abtauchen im nächsten Meme des digitalen Strudels. Der treibende Funke ist da und er entzündet sich – so das Testat – in nächtlichen Autofahrten, im Airbus mit Jetlag, an Sonntag-Nachmittagen, frühmorgens und spätnachts und bei Regen. Eckmann’s Grübelstimme dringt ins Mark, pflanzt Fragezeichen, bricht wie Wurzeln durch den Asphalt. Es treibt ein wilder Puls, einsame Klaviernoten treffen auf diffizile Beatstrukturen, alles getragen von traditionellem Songwritertum. Diese Songsammlung, wenn sie sich aus der Beliebigkeit einer Downloadliste lösen kann, bietet wieder eine Rettungsinsel, ein Notanker, eine Zuflucht, in der das Surren der Festplatte plötzlich wie der tosende Wind klingt, der nächtens um das eisverwehte Kloster in den Bergen tobt, wo der Held sich zurück gezogen hat, um Einklang mit sich selbst und Einsicht ins Leben zu finden. Und nachzudenken, wo und wie man die Brücke zwischen zwei Polen geschlagen hat und ob dies nun die Erbsünde war oder die Saat des Neuen Jerusalem? Es ist faszinierend, aber wissen werden wir es erst in frühestens einem Jahrzehnt. Und die Ausreden, die wir brauchen, werden wir auch immer haben – sollte doch die Beliebigkeit gewinnen.

"American Primitive" von L/O/N/G ist bereits via Glitterhouse erschienen.

http://www.longsounds.com/

http://www.myspace.com/chriseckmanmusic

http://www.g-stoned.com/artists/item/25-tosca

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