Festivaltagebuch Ethnocineca 2023, Eintrag 1: Methodologie der Liebe

Am Donnerstag startete das Wiener Dokumentarfilmfestival Ethnocineca in seine 17. Runde. Acht Tage lang stehen Votivkino und De France im Zeichen des internationalen Dokumentarfilms. Der diesjährige Fokus des Festivals liegt auf gesellschaftlichen und persönlichen Schwellenzuständen zwischen Veränderung und Stillstand. Eindrücke von den ersten drei Festivaltagen.

© Vahagn Khachatryan und Aren Malakyan — »5 Dreamers and a Horse«

Es ist ein warmer Frühlingsabend in Wien, als sich am Donnerstag die ersten Festivalgäste im Wiener Votivkino einfinden. Die Schlange an der Kassa wird länger und die Menschentraube um den Akkreditierungstisch größer. An der Kinobar werden die ersten Getränke ausgeschenkt. Verschiedene Sprachen sind zu hören, viel Englisch aber auch spanische und andere Wörter schwirren durch den Raum, was im Kinofoyer eine internationale Stimmung entstehen lässt. Die Ethnocineca zeigt heuer 48 Kurz- und Langfilme aus der ganzen Welt und bietet außerdem auch ein Rahmenprogramm mit Masterclass, Podiumsdiskussion und Filmtalk. Den Auftakt macht eine Keynote-Speech im großen Saal des Kinos.

Aufrichtiger Austausch

Am Pult vor der Kinoleinwand steht Mariangela Mihai, Filmemacherin und visuelle Anthropologin an der Western Washington University und der Georgetown University. Der Anfang stockt aufgrund technischer Probleme und während am Troubleshooting gearbeitet wird, überbrückt Mihai gemeinsam mit Moderatorin Rita Isiba charmant die Wartezeit. Als Ton und Präsentation schließlich funktionieren, beginnt Mihai ihren Eröffnungsvortrag, in dem sie die Bedeutung des ethnografischen Films wegen der Perspektivierung marginalisierter Stimmen hervorhebt – um gleichzeitig auch dessen methodologische Grenzen aufzuzeigen. Denn laut Mihai erfordere ein aufrichtiger Austausch zwischen Gefilmten und Filmenden eine »Methodologie der Liebe«, die sie in ihrer eigenen Filmpraxis unter anderem im Zugang der Ethnofiktion zu realisieren versuche. Es gehe darum, in kollaborativen Prozessen Wirklichkeiten darzustellen, die durch eine reine Beobachtung nicht fassbar seien. Mihai spricht von der aktiven Einbeziehung der Protagonist*innen in den filmischen Schaffensprozess und von »Care« als methodischem Zugang für eine ermächtigende Filmpraxis, die ihre Mitwirkenden mitgestalten lässt.

Moderatorin Rita Isiba mit Katja Seidel und Marie-Christine Hartig © Tobias Raschbacher

Zwischenzustände

»Care« als leitendes Prinzip des dokumentarischen Filmschaffens ist auch im anschließenden Eröffnungsfilm »5 Dreamers and a Horse« von Vahagn Khachatryan und Aren Malakyan spürbar. Doch bevor der Projektor angeworfen wird, gibt es noch die offizielle Begrüßung durch Marie-Christine Hartig und Katja Seidel, zwei der drei Festivalleiter*innen, sowie einen Ausblick auf das diesjährige Festivalprogramm. Dieses legt mit dem Festivalschwerpunkt »Liminalities« einen Fokus auf kollektive und individuelle Übergangsphasen und Zwischenzustände; auf Situationen in der Schwebe, zwischen schon Vergangenem und noch nicht Entstandenem.

Vor diesem Hintergrund erweist sich »5 Dreamers and a Horse« als sehr stimmiger Eröffnungsfilm, in dem das Regieduo Khachatryan und Malakyan vier Menschen beim Leben und Träumen in Armenien begleitet – in einem Land, das sich zwischen Tradition, Moderne und Krieg in einem durchaus liminalen Raum befindet: an der Schwelle zu etwas, das noch nicht eindeutig erkennbar ist, und mit einem historischen Rucksack, der den Weg dorthin zuweilen erschwert. Ein berührender, humorvoller und sensibler Festivalauftakt, der auch Mihais »Methodology of Love« durchscheinen lässt. Stehen die Filmemacher doch, wie wir im anschließenden Filmgespräch mit den Regisseuren erfahren, in engen freundschaftlichen Beziehungen zu den Protagonist*innen. Oder wie es einer der beiden treffend formuliert: »When you love your characters, you will be friends forever.«

Freundschaftlich geht es dann auch bei der anschließenden Feier im Foyer des Votivkinos zu: Ein vielfältiges Buffet, guter Wein und feine Musik sorgen für einen gut gelaunten Ausklang der diesjährigen Eröffnung. Und als die letzten Gäste aus dem Votivkino treten, verspricht die laue Frühlingsnacht eine schöne Festivalwoche.

Auf der Flucht

An den nächsten zwei Festivaltagen kommt die Vielfalt des Ethnocineca-Programms zur vollen Geltung. Bei den vielen internationalen Kurz- und Langfilmen am Spielplan, bleibt einem die Qual der Filmauswahl nicht erspart. Als gute Entscheidung erweist sich der Film »Lo que queda en el camino – What remains on the way« von Jakob Krese und Danilo Do Carmo, in dem wir einer Mutter mit vier Kindern auf der gefährlichen Reise durch Mittelamerika folgen: Lilian flüchtet vor ihrer bedrohlichen Lebenssituation in Guatemala und schließt sich einer organisierten Karawane aus Tausenden Menschen an, die sich gemeinsam auf den Weg zur Grenze zwischen Mexiko und den USA machen.

»Lo que queda en el camino« © Jakob Krese und Danilo Do Carmo

Durch die beeindruckende Nähe zu ihren Protagonist*innen schaffen es Krese und Do Carmo, die feindseligen Bedingungen für die Flüchtenden auf bewegende Weise einzufangen, ohne dem Publikum eine inszenierte Betroffenheit aufzudrängen. Stattdessen wird deutlich, dass die Filmemacher auf Augenhöhe operieren und stets auch die Solidarität, Schönheit und Stärke der gezeigten Menschen im Blick haben.

Nicht verheilte Wunden

Für den nächsten Film fliegen wir geistig wieder zurück nach Europa, und zwar zur österreichischen Dokumentation »Spuren im Wald – Traces in the Forest« von Joshua Jádi, Jakob Carl Sauer und Marius Ismael Mertens. Sie handelt von den tiefen und nicht verheilten Wunden des Genozids in Srebrenica, wo im Jahr 1995 mehr als 8.000 Bosniak*innen ermordet wurden. Der Film begleitet eine Frau namens Behka, die zum ersten Mal am jährlichen Friedensmarsch in Gedenken an die Opfer des Massakers teilnimmt. Dabei wird jene Strecke zurückgelegt, auf der damals Tausende Bosniak*innen auf der Flucht ermordet wurden – etwa auch Behkas Bruder. »Spuren im Wald« entfaltet eine zutiefst widersprüchliche Szenerie zwischen idyllischer Natur und dem Wissen um die Gräueltaten, die auf den ersten Blick unsichtbar zu sein scheinen.

»Spuren im Wald« © Jakob Carl Sauer

Im weiteren Verlauf des Films wird aber immer deutlicher, dass der Krieg durchaus seine Spuren hinterlassen hat: Wir sehen einen stark militarisierten Friedensmarsch, Kinder, die mit Spielzeuggewehren schießen, und strenge Corona-Maßnahmen, die den Friedensmarsch gar nicht so friedlich wirken lassen. Getragen wird »Spuren im Wald« von der intimen Kameraarbeit (Jakob Carl Sauer), die eine enge Verbindung zur Protagonistin erzeugt und uns vor dem schrecklichen Schmerz des Krieges erschaudern lässt.

Mystische Traditionen

Als etwas schwerer zugänglich erweist sich anfangs »Light upon Light« von Christian Suhr. Der dänische Filmemacher und Professor für visuelle Anthropologie begibt sich darin auf eine ergebnisoffene Suche nach spirituellen Lichterfahrungen, von denen etwa in den mystischen Traditionen des Islams in Ägypten berichtet wird. Wir begleiten Suhr dabei, wie er in Interviews, Ritualen und intimen Momenten der Frage nachgeht, ob alle religiösen Erfahrungen letztlich dasselbe Licht beschreiben. Zeitweise wirkt die Kamera dabei wie zufällig auf die Subjekte gerichtet, wodurch die Bilder teils eine einfache, nicht elaborierte Ästhetik aufweisen.

»Light upon Light« © Christian Suhr

Die anfängliche Skepsis gegenüber der einfachen filmischen Form, verfliegt aber schnell, sobald klar wird, dass der Film neben der allgemeinen spirituellen Fragestellung auch einen wichtigen Perspektivenwechsel auf den Islam bietet. Denn dieser wird mit der mystischen Praxis nicht wie so oft als problematische, fundamentalistische Religion dargestellt, sondern als eine zutiefst menschliche Manifestation der universellen Suche nach Licht in finsteren Zeiten.

Auch wir setzen unsere cineastische Suche nach dem Licht fort und blicken schon gespannt auf die nächsten Festivaltage der Ethnocineca. Auf dem Programm steht unter anderem der Film »Nouse Autres – We Others« von Laurent Van Lancker, der auch eine Masterclass über seine Methode der hybriden Form zwischen Dokumentation und Fiktion halten wird.

Das Festival Ethnocineca zeigt von 4. bis 11. Mai 2023 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Die gesammelten Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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