Angesagte Restaurants klingen dem Namen nach wie illegale Clubs. Die Süddeutsche macht sich bereits über regional tätowierte Köche und die kunstvollen Bauschäden der Hipster-Restaurants lustig. Ist Essen wirklich "das neue Pop"?
Seit Menschengedenken ist Essen mehr als bloß Nahrungsaufnahme. In Wien soll es auch heute noch die eine oder andere Restauration geben, die am 20. April auf der Gasse mit Kreidegekritzel als Mittagsmenü Eiernockerl mit grünem Salat anpreist. Zur Feier des Tages wird am Geburtstag des Führers dessen Leibspeise serviert. Ein Gericht weist als eindeutiges Symbol einschlägige Gäste ins Hinterzimmer. Und dass "Bio" kein sakrosankter Garant fürs bessere Leben ist, steht fest, seit – auch kein Geheimnis – Gottfried Küssel ein paar Jahre lang seinen "nationalen Bioladen" in der hippen Leopoldstadt geführt hat.
Auch in der Literatur darf das Kulinarische oft als Chiffre herhalten. Michel Houellebecq lässt seinen schriftgelehrten Protagonisten in der "Unterwerfung", seinem großen europäischen Roman, lange bevor dieser es sich aus Langeweile und angewidert von der eigenen kulturellen Laschheit im Islam bequem macht, vor allem billiges Fastfood aus Fernost fressen. Später wird er dies als Indiz für die eigene Identitätslosigkeit werten und Gefallen an einem orientalischen Lieferservice finden.
Deutlich profaner verleiht da noch das herrliche Paprikahendl gleich auf den allerersten Seiten von Bram Stokers "Dracula" den Ausführungen des Reisenden Lokalkolorit und einen Hauch transsilvanischer Exotik. Beispiele wie diese ließen sich aus allen Epochen und Gattungen finden. Natürlich auch im Nachkriegsschlager – von der "Hochsaison im Eissalon" bis zum "Griechischen Wein".
Dass das Essen gegenwärtig an Bedeutung gewinnt, ist allerdings nicht allein unserem fortschreitenden Alter geschuldet. Überstrapaziert: der Sager vom gemeinsamen Essen als "Sex des Alters". Man braucht kein Markt- und Meinungsforscher sein, um den Megatrend Food zu erkennen. Allerorts Street Food, Baristas in Residence, vegane oder besonders blutige Burger, "Durst & Wurst" und andere Fressfestivals. Das "Vienna Food and Wine Festival" hatte gar binnen 24 Stunden nach Ankündigung mehr als 10.000 Facebook-Fans.
Aber ist Essen wirklich "das neue Pop", wie das Berliner Stadtmagazin Tip vollmundig behauptet? – Ja, natürlich; ist es. Und das nicht nur, weil mittlerweile alles irgendwie Pop ist und wir uns biedermeierlich einigeln.
Die kulturelle Definitionsmacht von westlicher Popmusik ist weitgehend flöten gegangen. Vielleicht mag es in der einen oder anderen Subkultur oder in Salafistenkreisen anders sein. Doch zumindest die Musik, die uns mitteleuropäische Durchschnittsbürger heute erreicht, ist ungeachtet aller subkultureller Sozialisation weitgehend entpolitisiert. Connaisseure haben sich in ihre Genres zurückgezogen. Bandnamen werden googleoptimiert.
Und weil sich anders ohnehin kein Geld mehr verdienen lässt, richten sich Künstler immer öfter nicht mehr an ein Publikum, sondern kommunizieren vor allem als Markenbotschafter mit Zielgruppen. Abseits des Individuellen ist Musik so gesehen weitgehend bedeutungslos geworden. Das vielleicht plakativste Beispiel dieser Tage und Gegend: Conchita Wurst. Zweifellos eine politische Figur. Doch nichts ist bei diesem rundum gelungenen Gesamtkunstwerk wurschter als die Musik. Und bei dem, was uns von dieser Person noch erwarten mag – wir alle sind gespannt! – rechnet mit Sicherheit niemand mit Musik.
Kulturoptimismus und Völlerei
Demgegenüber finden nicht nur die besten Partys bekanntermaßen in der Küche statt. Eine Küche bietet gleichermaßen Platz für Völlerei und das große Fressen, ermöglicht allen Schichten, gerade auch den Schönen und Schicken, Distinktionsgewinn und bleibt dabei doch auch ein Proberaum für Kulturoptimismus. Denn dass Lebensmittel – anders als Musik, von der es nie genug geben kann – eine beschränkte Ressource sind, spricht sich langsam aber sicher rum. Obwohl die gastrosophische Bildung – die Essen als Genuss, aber auch als politischen Akt ansieht – durchaus noch ausbaufähig ist.
In ein paar Jahren werden wir uns über all die Grillmeister, Cupcake-Tussis und Dry-Aged-Fachsimpler womöglich genauso lustig machen wie heute über Gitarrensolo-Fetischisten; wird uns gestrig erscheinen, dass mancher seinem Steak- oder Burger-Habern so banausenhaft und unreflektiert frönt, wie er sich das beim Musikhören und Fortgehen nie durchgehen lassen würde. Doch irgendwo muss man ja einmal anfangen.
Wer sich derweil fortschrittlicher und elaborierter auf Slow Food, "FutureFood" (Hanni Rützler) oder den Laborfleischburger Appetit machen möchte, regt diesen am besten mit "Döner Hawaii" an, der klugen Festschrift des Frankfurter Ernährungsethnologen Marin Trenk auf unser globalisiertes Essen. Absoluten Anfängern sei allerdings "Kochen in einfacher Sprache" ans Herz gelegt. Das alte Sonderschulbuch, das mir meine Mutter damals geschenkt hat, als ich von zu Hause ausgezogen bin, ist zwar nur mehr antiquarisch erhältlich. Es sollte aber dringend nachgefragt und wieder aufgelegt werden. Vielleicht besser grafisch überholt. Schließlich ist Kochen mehr als nur die Vorbereitung zur Nahrungsaufnahme.
Der Herausgeber auf Twitter: @th_weber