Lydia Haider wird gerne mit einem Label versehen, das für LiteraturkritikerInnen eindeutig zuordenbar ist – das Enfant terrible. Eindeutig und zuordenbar ist an der Autorin Lydia Haider aber gar nichts. Und an der Person Lydia Haider erst recht nicht.
»In meinem Spritzer schwimmt eine Nudel«, sagt Lydia Haider zum Kellner im Cafe Weidinger, den sie namentlich begrüßt. Er bringt später zwei neue Spritzer. Lydia lacht und dankt. Das Cafe Weidinger ist für Meetings mit der Schriftstellerin derart obligatorisch wie der szenische Einstieg bei einem journalistischen Porträt.
Vor 16 Jahren ist Lydia Haider nach Wien gezogen. Schon damals ist sie gerne und günstig im Weidinger eingekehrt. Seither ist das Beisl am Gürtel ihr Stammlokal. »Es hat auch lange diesen FPÖler-Stammtisch gegeben. Das war immer spannend, wenn die komplett gegenteiligen Leute am Nachbartisch sitzen. Die treffen auf Gruppen, die vielleicht genau das unterwandern wollen. Da kann man ein bisschen horchen und sie horchen ein bisschen bei uns«, erzählt sie. Heute setzen sich manche Menschen nicht mehr an oder neben ihren Tisch. Warum KritikerInnen oft vorauseilend Abstand nehmen, dazu kommen wir später.
Während die Schriftstellerin sich gerne an ihre Studienzeit im Weidinger erinnert, erinnern sich viele bei ihrem Namen wahlweise an die diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur, bei denen sie für den Bachmannpreis nominiert war und den Publikumspreis erhielt, oder das sogenannte »Babykatzengate« 2017. Dabei hat Lydia Haider schon viel früher, nämlich 2015, ihren ersten Roman veröffentlicht. »Kongregation«, ein Roman in Wir-Form über Jugendliche und den Tod, machte damals schon klar, dass die oberösterreichische Schriftstellerin kein Abziehbild für die Literaturwelt ist, sondern ihr eigenes Ding durchzieht.
Lydia dreht sich eine Zigarette, während sie gefragt wird, warum Tod, Zerstörung und die damit einhergehenden Machtverhältnisse so ein hauptsächliches Thema in ihren Werken darstellen. »Man kann dem ja gar nicht nicht begegnen. Ständig sterben Leute aus deiner Umgebung«, sagt sie schließlich, »Zerstörung passiert ständig mit dir selbst. Sei es jetzt die basalste Zerstörung, weil man Kinder kriegt. Ich nenne das immer die Entsubjektivierung am Anfang. Nachher muss man sich wieder alles zurückerkämpfen. Und auch die Machtverhältnisse, die man seit der Geburt für immer mitkriegt. Man kann nicht nicht über das schreiben.«
Auch in »Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit« ist das Sterben ständiger Begleiter. Die Protagonistin nimmt am Akademikerball teil, der sich langsam und in sämtlichen Räumen zu einem Anlass für Massensterben auf verschiedene Arten verwandelt. In der kommenden Spielzeit wird das Schauspielhaus Wien diesen Text auf die Bühne bringen. Doch damit nicht genug Haider-Content für die Wiener Theaterhäuser: Lydias dritter und kommender Roman »Zertretung« wird als eine Trilogie für das Volkstheater adaptiert.
Schon 2015 hat Lydia Haider ein Theaterstück geschrieben. Dieses sei aufgrund hohen Personalbedarfs als nicht umsetzbar abgelehnt worden. Jetzt sind allerdings die Theaterhäuser auf sie zugekommen. »Irgendwie ist es logisch, weil die Texte von sich aus auf Mündlichkeit hin ausgelegt sind. Und weil sich Theater viel mehr trauen als klassische Romanverlage, die sich urschnell in die Hose machen, sobald es arg wird oder man sich sprachlich nur ein bisschen aus dem Fenster lehnt, was Theater ja sowieso muss«, findet Lydia. Dabei ist die Übersetzung von Text auf Bühne gar nicht so einfach – weder für die umsetzenden Institutionen noch für die AutorInnen. Lydia nimmt einen Schluck von ihrem Cola, bevor sie zugibt, dass sie von den Theaterfassungen von Texten anderer SchriftstellerInnen meistens enttäuscht war. »Ich habe in allen Gesprächen, die ich mit Theatermenschen hatte, immer gleich gesagt: Ich werde sicher enttäuscht sein, oder es ist gleichermaßen cool – dass ihr was noch Tolleres draus macht, kann ich mir nicht vorstellen.« Wenn ein Text am Blatt fertig ist, sei es für die AutorIn immer das Beste, was je rauskommen könne.
Ehrfurcht entweihen
An »Zertretung« schreibt Lydia seit 2014. Sie nennt ihn einen »fetten Roman«. Es ist der erste Text der 35-Jährigen, in dem sie als Person vorkommt. Die Handlung: Lydia Haider gegen Gott. A tale as old as time. Aber bei ihr als »Stirb langsam 3«-Cover. »Es endet ganz dramatisch und schirch. Das kann ich alles noch nicht sagen, sonst ist es ja fad. Aber dass es dramatisch und schirch endet, kann man sich bei mir eh denken«, sagt Lydia. Ihre »Helden« müssen dabei verschiedene Rätsel lösen, die Gott ihnen aufgibt. Doch für den initiativen Anlass dieses Disrespects, warum Gott Lydia Haider überhaupt herausfordert, war sie lange auf der Suche. Herausgekommen sind verschiedene biblische, dystopische Szenarien wie etwa die Auslöschung der Hunde, die Auslöschung der Männer oder der Sprache.
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