Lydia Haider wird gerne mit einem Label versehen, das für LiteraturkritikerInnen eindeutig zuordenbar ist – das Enfant terrible. Eindeutig und zuordenbar ist an der Autorin Lydia Haider aber gar nichts. Und an der Person Lydia Haider erst recht nicht.
Biblisch ist ein Begriff, der in so ziemlich jeder Rezension zu ihren Werken als Attribut gebraucht wird. Die gewisse altertümliche und ehrfürchtige Schwere, die in Lydias Sprache mit Dialektalem, Derbem und Radikalem vermischt und in ihrem ganz eigenen Vortragsstil gelesen wird, gibt so manchen LiteraturkritikerInnen Rätsel auf. Dabei ist der biblisch anmutende Ton in ihrer geschriebenen Sprache hauptsächlich Ergebnis einer spielerischen Herangehensweise, jede Nuance der gesamten Sprache potenziell miteinzubeziehen.
»Das ist ein Teil unserer Kunst- und Kulturgeschichte, ist aber immer so ehrfürchtig behandelt worden. Entweder du nimmst diese Sprache und behandelst sie brav, wie es ihr gebührt, oder du nimmst sie gar nicht. Was soll das sein?«, so Lydia. »Ich werde auch oft nach Lesungen gefragt: Wie können Sie denn bitte Mose fünf Vers irgendwas in diesen Kontext reinsetzen? Keine Ahnung! Ich habe ein Wort bei Bibel-Online eingegeben und dann geschaut, welche Zitate kommen. Es ist ein absichtliches Entweihen.«
»Missgeburt«, eine Messe
Christlich-katholische Ikonografie als Stilmittel hat in der Musik vielleicht noch mehr Tradition, als in der Literatur. Ob es sich für Madonna jedes Mal bei Namenszuruf wie ein Gebet anfühlt oder ob Lady Gaga immer noch verliebt in Judas ist – für das Spiel mit Blasphemie braucht es keine Kirchentonarten. So braucht auch die Messe von Lydia Haiders Band nicht unbedingt eine Kirche – sie funktioniert auch als Album. »Missgeburt« heißt die erste LP der »literarisch-liturgischen« Gruppe Gebenedeit, deren Chefpredigerin Lydia Haider ist. Eine Familienband, wie sie es nennt, denn das Trio besteht neben ihr aus ihrem Schwager Johannes Oberhuber (Bässe, Orgel), mit dem Lydia bereits bei vertonten Lesungen zusammengearbeitet hat, und ihrem Freund Josua Oberlerchner (Trommeln und Klangbleche). »Missgeburt« ist dabei tatsächlich nicht nur eine LP, sondern eine Messe – wenn man so will, ein etwas anderes Konzeptalbum. »Es ist am Anfang eher zach. Find ich selbst, wenn man sich das anhört, das Album. Man wird erst mal runtergetreten, wie das typisch katholisch eben so ist. Und dann wird man am Ende zur Erlösung und zum wahren Glauben geführt«, erklärt die Sängerin der Band.
Musik, nicht nur das eigene Musikmachen, hat für Lydia Haiders Schreiben generell immer schon eine wichtige Rolle gespielt – vielleicht sogar eine noch wichtigere als Bibelästhetik. Wenn man sie nach ihrem persönlichen Durchbruch fragt, sagt sie nicht etwa das Marokko-Reisetagebuch mit Stefanie Sargnagel und Maria Hofer, und was der österreichische Boulevard da rausgelesen hat. Sie spricht von einer Entdeckung, kurz nach ihrer Diplomprüfung 2013, als sie ihren ersten Roman zu schreiben begann: Mit lauter Musik via Kopfhörer kann sie sofort schreiben. Ein »Auto ohne Motor« sei sie zuvor gewesen. Mit Musikbegleitung düst sie dahin.
So macht es auch nur Sinn, dass Lydia oft stundenlang im Schmauswaberl an der Wienzeile – ihrem anderen Stammlokal – in Kopfhörern verschwindet und mitten unter ihren FreundInnen an ihren Texten schreibt. In einem Schreibseminar habe sie mal ihre »Ur-Schreibsituation« wiederherstellen sollen. Sie habe sich zurückversetzt in eine Schreibszene als Kind, in der es abends war, alle anderen Kinder auch schon zu Hause und ihre Geschwister um sie herum im Wohnzimmer der Familie. Zwei Komponenten waren in diesem Setting wichtig, das schon für den kindlichen Schreibgeist der Autorin funktioniert hat: Sie kann nichts versäumen und sie ist in Sicherheit.
Obwohl es also tatsächlich ein bisschen FOMO ist, die dahinter steckt, wenn Lydia Haider mehrere Stunden des geselligen Abends in ihre Arbeit versinkt, hatten ihre Schmauswaberl-FreundInnen anfangs Probleme, das hinzunehmen: »Von der Umgebung hat das am Anfang viel abverlangt, weil da schon auch FreundInnen dabei waren, die gesagt haben: Was, jetzt schreibst du schon wieder? Ist dir leicht dein Schreiben wichtiger als wir? – Ja. Ist es jetzt gerade. Ihr wisst es eh und ich bin deswegen jetzt nicht weg, aber redet mich halt gach ein paar Stunden nicht an.« Mittlerweile, nach zwei, drei Jahren, sei das allerdings akzeptiert und ihr Umfeld würde andere potenzielle EinbrecherInnen in diese Schreibpraxis sogar abhalten. »Hey, die schreibt! Geh sofort weg! Da passiert was Tolles«, imitiert Lydia ihre FreundInnen.
»Wie bei der Mafia«
Es ist Juni: Lydia Haider und Fanclub finden sich wie so oft im Schmauswaberl zusammen. Dieses Mal soll aber für das Publikumsvoting des Bachmannpreises die Werbetrommel gerührt werden. »Das war wie bei der Mafia. Es waren wirklich alle Netzwerke aktiviert. Ich habe immer nur Getränke serviert und alle haben in verschiedenen Sprachen telefoniert. Schön zu sehen, dass es so vielen Leuten wichtig war, dass ich den Preis kriege«, erinnert sich Lydia.
Ihr Text für die Tage der deutschsprachigen Literatur besteht aus einem einzelnen Satz, der sich über neun Seiten schlängelt. Ein Hund, eine Protagonistin und eine Jury, die nicht ganz versteht, was das soll. Sogar von einem Tabubruch ist die Rede, als einer der Juroren Haider fragt, was sie mit ihrem Text bezwecke. Die Jury diskutiert über Maximalismus, den Vortragsstil und auch darüber, wer im Text eigentlich spricht. Doch genau diese Trennung von handelnder Person, schreibender Person, und der persönlichen Person hinter der schreibenden ist Lydia Haider sehr wichtig – im Gegensatz zum Rest des Literaturwesens, wie es scheint. »Das einzige voll Negative am Bachmannpreis war die Kritik, weil ich etwas ganz anderes erwartet habe. Nämlich eine harte Kritik, die mich zumindest trifft, damit ich nachher mit diesen Emotionen wieder was Neues schreiben kann. Aber das war es nicht. Ich hatte das Gefühl, es ist an ihnen vorbei gegangen oder sie hätten einen anderen Text vor sich gehabt«, sagt Lydia.
Es sei vergleichbar gewesen mit dem Gefühl, wenn sich jemand nicht mit an deinen Tisch setzen will. Letzteres passiere gar nicht so selten, denn viele schließen von Lydia Haider, der Autorin, nahtlos auf Lydia Haider, die Person. Als sei Abstraktion nicht sowieso Teil jedes Schreibens. Eine fälschliche Annahme, die besonders für Autorinnen eine lange Tradition hat. »Ich glaube, dass man Frauen das nicht zutraut, weil man ja in dieser langen Geschichte immer der Frau die Emotion zugerechnet hat und dem Mann den Verstand. Dass man bei einem Mann, der eine Kunstfigur erschafft, natürlich nicht nachfragt, denn der ist ja gescheit genug, das zu schaffen. Aber bei einer Frau? Selbst Menschen, die meine Sachen und mich gut kennen, glauben immer noch, dass das eins zu eins ist«, sagt Lydia. Es ist nahezu jedem Interview mit Lydia Haider anzukennen, dass zu verstehen versucht wurde, was hinter ihrer ungewöhnlichen Sprache und ihrem radikalen Duktus steckt – um sie schließlich endlich einordnen zu können. Doch genau in diesem Aufbrechen von dogmatischer Einordnung liegt die Essenz ihres Radikalseins. Es ist schwierig, keine starke Meinung zu ihrem Schreiben zu haben, ob im Positiven oder Negativen. »Dieses Gefühl, dass Leute von dir Abstand nehmen, obwohl sie dich als Person gar nicht kennen, sondern nur deine Texte, zeigt wieder, dass sie überhaupt nicht trennen können«, sagt sie. »Aber man bringt sich so auch um viele Gespräche, die vielleicht anecken oder die arg geworden wären. Dann find ich das fad. Und dann gehst du manchmal auch lieber in Lokale, wo einfach keiner weiß, wer du bist.«
Lydia Haiders Text »Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit« feiert als Bühnenstück am 3. Dezember Premiere im Schauspielhaus Wien. »Zertretung« wird in der Theaterfassung im Jänner 2021 im Volkstheater uraufgeführt und sucht in der Romanfassung derzeit nach einem Verlag. »Missgeburt« von Gebenedeit erscheint zu Allerheiligen bei Problembär Records.