Gib mir alles

Diedrich Diederichsen hat das wichtigste Buch über Pop-Musik geschrieben, das es auf Deutsch gibt. Weil man das sowieso lesen muss, haben wir mit ihm eher über die Gegenwart und Zukunft – nicht nur von Pop-Musik – geredet.

Du sprichst vom 20. Jahrhundert und seinen Ausläufern. Würdest du trotzdem sagen, dass diese Beschreibungen von dir auf die Gegenwart zutreffen?

Ja schon, das gibt es alles weiterhin und vielleicht denk ich sogar heute noch mehr als vor zwei Jahren, dass Pop lebendig ist und junge Leben prägt. Nur gleichzeitig sind eben andere Modelle entstanden, gibt es andere Modelle der kulturellen Sozialisation, die entweder eine Modifikation von diesem Pop-Musik-Modell sind, das ich beschreibe, oder etwas anderes. Ich schreibe auch am Ende, dass ich glaube, dass das Sozialisationsmodell des Spiels das der Identifikation ablöst – und das bedeutet natürlich schon eine Menge. Es geht um eine große Veränderung – auch wenn sich nicht alles dadurch verändern wird, aber vieles wird es.

Das Modell des Spiels – also der Games-Bereich?

Die gehören natürlich auch da rein, aber ist eigentlich allgemeiner. Es betrifft natürlich auch das gesamte Rebellionsparadigma – von der männlichen Rebellion, später der Emanzipation und schließlich auch noch der Selbstermächtigung. Das gibt es alles nur in einer Welt, in der die kulturelle Kommunikation über Identifikation läuft – also wo sich Einzelne da einsortieren und irgendwann im Leben Brüche erleben, wenn die Identifikation bricht und sie sich neu formiert. Das Spielmodell funktioniert psychologisch anders. Ich hab mit einer Sache etwas zu tun, ich setze auf etwas, aber es gibt eine Trennung zwischen der setzenden Instanz und dem Einsatz – und der Einsatz kann verloren gehen, das ist dann auch wirklich schlimm, oder auch fatal und manche Leute erschießen sich auch anschließend – aber es ist trotzdem keine Identifizierung, sondern ein Setzen. Sie haben aus der Distanz heraus gehandelt. Und das betrifft dann auch so kulturelle Formate wie Games, Rollenspiele usw. Es ist das zentrale Narrativ des Reichwerdens, es geschieht durch Spekulation und nicht dadurch, sich mit einem Unternehmen, das man selbst gründet oder ist, zu identifizieren.

Das ist auch sozusagen das Narrativ einer Entwicklung, die wir zurzeit haben: Die Realien führen zu einem einzigen Stau, die politischen Verhältnisse entwickeln sich nicht weiter, das ist alles verstopft. Aber die Spekulation, das Spiel mit Potenzialen, ist unser Weg raus aus dieser Situation. Insofern ist das ein sich abzeichnender Komplex, der einen Wechsel darstellt zum Paradigma der Identifikation. Nur glaube ich, dass er sehr viel davon erbt und übernimmt, und dass es noch eine ganze Weile braucht, bis wir ihn komplett da haben, bis er zur Blüte kommt. Dieser Komplex steckt sozusagen noch im Jahr 1951.

Ist das im Buch so ausformuliert oder müsstest du diese Spieltheorie eigens formulieren?

Die ist in dem Buch ansatzweise formuliert, aber nicht ausformuliert. Es ist schon erkennbar, aber es ist nicht in allen Facetten dargestellt.

Bild(er) © Diedrich Diederichsen Privatarchiv, Kiepenheuer & Witsch
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