Gib mir alles

Diedrich Diederichsen hat das wichtigste Buch über Pop-Musik geschrieben, das es auf Deutsch gibt. Weil man das sowieso lesen muss, haben wir mit ihm eher über die Gegenwart und Zukunft – nicht nur von Pop-Musik – geredet.

Stefan Niederwieser: Ist das der Grund, warum manches von dem, was Pop-Musik früher gekonnt hatte, in digitale Medien gewechselt ist? Ist das der Grund, wieso Occupy, Arabischer Frühling und die Wirtschaftskrise keinen wirklichen Sound gehabt haben?

Zu Occupy passt einfach jeder Sound. Früher hätte man gesagt: Was ist das für eine Scheiß-Revolution, zu der man das und das hören kann – das ist aber egal, auch das sagt keiner mehr. Ich glaube aber, es gibt auch noch andere Gründe. Die Tatsache, dass eine Erhebung einen Sound hat, dafür gibt es ein paar Banalgründe, wie ein gemeinsamer Rhythmus und gemeinsames Singen –, aber dass sie darüber hinaus, über die öffentliche Versammlung oder die Demo oder die Besetzung hinaus einen Sound hat, der emotional mit den Leuten verbunden ist, die das leben und tragen, setzt voraus, dass eine sehr starke lebensstilistische und kulturelle Differenz besteht zwischen den Revoltierenden und den anderen. Und das ist hier weniger der Fall. Die letzten Kämpfe sind entweder wirkliche Kämpfe für Grundbedürfnisse, Lebensmittel-orientierte Kämpfe – oder es sind solche, die die Rahmenbedingungen und die Grundrechte des öffentlichen Lebens betreffen. Und gerade Grundrechte zeichnet aus, dass sie gar nicht kulturell konkret werden können.

Und das ist der fundamentale Paradigmenwechsel – die Tatsache, dass quasi eigentlich alle politischen Kräfte, die politische Bezeichnungen tragen – wie links, rechts, liberaldemokratisch oder was auch immer – gerade, wie etwa in der Ukraine, revoltieren. Das Politische überhaupt gegen das Prä-Post-Präter-Politische. Diese Tatsache schließt es aus, die aus der Welt der kulturellen Identifikation stammenden Rituale mit einer bestimmten politischen Kultur zusammenzudenken. Bei Occupy war das noch anders, da war noch viel klassische Sub- und Gegenkultur an Bord. Im Grunde geht es bei alldem, was zurzeit stattfindet, um elementare Dinge – es geht überall darum, dass man gar nicht mehr normal leben kann. Was früher ein normales Leben in der Stadt war, kann sich heute keiner mehr leisten. Es geht nicht mehr. Die gesamte Organisation von Massengesellschaften in Städten bricht gerade zusammen. Das ist so fundamental, das es dazu keinen Soundtrack geben kann, höchstens zufällig irgendwas.

Der Arabische Frühling oder die osteuropäischen Erhebungen sind teilweise noch allgemeiner – die enthalten diese Komponente auch, und dann noch mehr. Deshalb ist es auch so irre – die ägyptische Revolution wird von Islamisten genauso getragen wie von Leuten, die im Grunde nichts anderes wollen als die Islamisten loszuwerden – trotzdem brauchen sie einander, da sie zunächst mal dieses andere System loswerden wollen.

Michael Kirchdorfer: Popsongs haben ihre Subversivität verloren, sie sind Accessoire. Ist diese Geste austauschbar geworden?

Ja, aber das liegt nicht in einer Entwicklung, die der Popsong erfahren hat, sondern dass er nicht zur Revolution passt. Es liegt am Charakter dieser Revolution. Es funktioniert nicht, weil es in diesen Revolutionen um was anderes geht. Die Revolutionen bewegen sich – wenn man so geschichtsphilosophisch reden will – vor der ganzen Epoche der Pop-Musik. Die wollen ja im Grund erstmal klären, dass es Rahmenbedingungen gibt, in denen man dann wieder gegen seine Eltern revoltieren kann. Im Moment kann man sich das gar nicht leisten, weil weder die Eltern noch man sich selbst die Wohnung in der Stadt leisten kann. Da hat es also auch keinen Sinn, gegen sie zu revoltieren.

Stefan Niederwieser: Du sprichst, wenn es um Auswege für die Pop-Musik geht, von »Inseln bilden«, »opak werden«, von einem Phantomschmerz, der sich durch die gekappte Verbindung von individueller Praxis und kollektiver Praxis ergibt. Aber selbst das ist dann nicht befriedigend.

Ich hab erstmal mit Auswegen nichts zu tun, das fände ich anmaßend. Das Buch franst dort in Bezug auf gegenwärtige Entwicklungen aus und erwägt, es schmiegt sich mimetisch an die Praxis anderer Leute an. Dann noch einen Schluss daraus zu ziehen, zu sagen, das ist die Synthese übrigens, folgt mir, das geht glaube ich nicht.

Hast du eine Einschätzung zum neuen Album von Ja, Panik? Das macht doch genau das.

Das ist eine sehr schwierige Frage. Mich erschüttert ein bisschen – wenn ich beobachte, wie es rezipiert wird – wie sehr es einem ganz bestimmten Bedürfnis entgegenkommt, das immer wieder formuliert wird, nämlich, dass man so ganz genau – und auch mit allen Unschärferelationen, mit all der Anerkenntnis aller Komplexität und unter aller Einbeziehung der neuesten Wolken und Entwicklungen – das Richtige will und das Richtige versteht und zum anderen eben doch cool lebt. Also dieses Holismus-Ding, dass man eben keine kognitive Dissonanz haben will. Ich will nun nicht kognitive Dissonanz als Gegenmodell beschreiben, denn das ist neoliberaler Imperativ, aber, dass man in die Dissonanz geraten muss und das nicht heilen sollte. Das kriege ich von Pop-Musik, dass ich im Grunde genommen alles, was ich gut finde, nicht gut finden kann. Das ist eigentlich der Normalzustand – etwas, das mir im kulturindustriellen Bereich gut gefällt, kann mir eigentlich gar nicht gefallen, und das ist auch gut so. Und dann gibt es dazwischen Sachen, die scheinen dieses Problem lösen zu können oder lösen zu wollen – und das macht mich skeptisch. Wobei, wenn mich so eine Lösung überzeugt, dann bin ich auch bereit diese Skepsis zu vergessen.

Bild(er) © Diedrich Diederichsen Privatarchiv, Kiepenheuer & Witsch
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