Goodbye, Stahlstadt!

Die ehemalige Tabakfabrik soll zum neuen kulturellen Vorzeige-Projekt der Stadt Linz werden. Das diesjährige Ars Electronica Festival ist bereits eingezogen. Willkommen in der Zukunft eines postindustriellen Juwels.

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Ende September 2009 wurde die Produktion in der „Tschickbude“ an der Unteren Donaulände eingestellt, bereits im Juni davor waren der Kauf und die Gründung einer Entwicklungs- und Betriebsgesellschaft für die künftige Nutzung des Areals vom Linzer Gemeinderat beschlossen worden. Seither warten denkmalgeschützte 3.000 Tonnen Stahl auf ihre Bestimmung – mitten in Linz, auf einem 38.148 Quadratmeter großen Fabrikgelände, auf dem sich hinter jeder Tür und in jeder noch so dunklen Ecke ein eigentümlicher Geruch eingenistet hat: Tschick.

1929 bis1935 von den Architekten Peter Behrens und Alexander Popp als erster Stahlskelettbau dieser Größendimension in Österreich konstruiert, ist der sechsgeschossige, 227 Meter lange und 16,5 Meter breite Haupttrakt der ehemaligen Tabakfabrik ein international beachtetes Meisterwerk der Architekturmoderne. Peter Behrens, Industriedesigner und -architekt, beschäftigte damals in seinem Büro spätere Stars wie Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius und Le Corbusier. Mit seinem ehemaligen Schüler Alexander Popp (der nach dem Anschluss 1938 eine fragwürdige Karriere als Rektor der Akademie der bildenden Künste, Hauptarchitekt der Hermann-Göring-Werke und glühender Nationalsozialist startete) entwickelte Behrens in Linz einen Gebäudekomplex, der mit der Verwendung und Verarbeitung von Materialen wie Stahl, Glas und Beton der ultimative Vorzeigebau einer modernen Industrieästhetik werden sollte.

Funktionalismus stand an erster Stelle des Neubaus der ursprünglich bereits 1850 gegründeten Linzer Tabakfabrik. Während des Zweiten Weltkrieges erzeugten 1.000 Arbeiterinnen und Arbeiter rund fünf Milliarden Zigaretten pro Jahr. Memphis, Marlboro, Casablanca, Jonny mit und ohne Filter – in den nächsten Jahrzehnten wurde hier fermentiert, geschnitten, gerollt und gestopft, was die Österreicherinnen und Österreicher inhalieren wollten. Nach der Privatisierung 1997 und dem wenige Jahre darauf folgenden Verkauf an einen britischen Tabakkonzern (der wiederum 2007 von einem japanischen Konzern aufgekauft wurde), stand 2009 die Schließung der Linzer Fabrik und die Entlassung von 269 Personen fest.

Testgelände für die Zukunft

Jetzt wird das Areal reaktiviert: Von 2. bis 7. September bespielt das Ars Electronica Festival die Hallen der Tabakfabrik. Unter dem diesjährigen Titel „Repair“ begibt sich das Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft auf die Suche nach Auswegen aus den selbstverschuldeten Dilemmata der Menschheit, thematisiert und visualisiert mögliche Veränderungen im System und in den Verhaltensweisen. Repair. Rethink. Reinvent. Reparatur ist der Vorgang, bei dem ein beschädigtes Objekt in einen Zustand zurückversetzt wird, in dem es die ihm zugedachte Funktion wieder erfüllen kann. Mit dieser übergeordneten thematischen Ausrichtung wird der Austragungsort zu einem tragenden programmatischen Element des Festivals, so die Veranstalter: „Eine Fabrikanlage, die man einst baute, um Arbeitsplätze zu schaffen, die Opfer der Globalisierung bzw. der daraus gezogenen, falschen Schlüsse wurde und die nun als wertvolle Immobilie in zentraler Lage zur Keimzelle neuer Zukünfte dieser Stadt werden soll. Ein Ort für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Zustand unserer Gesellschaft, wie man sich ihn besser und spannender nicht wünschen könnte.“ Die Organisatoren des Ars Electronica Festivals sind sich aber sicher: Die Tabakfabrik ist für das Festival nur eine Zwischenstation. Bleiben will man hier nicht. Obwohl ein funktionierendes Rohrpostsystem schon seinen Reiz hat.

Über die nachhaltige Nutzung des Fabrikgeländes wird aber bereits intensiv nachgedacht. Als Vorbilder dienen international erfolgreiche Projekte zur Revitalisierung von teils innerstädtisch gelegenen Industrie-Infrastrukturen wie die Baumwollspinnerei in Leipzig oder die Manufaktura im polnischen Lodz. Und auch das Wiener Museumsquartier mit seiner Mischung aus Kunst, Creative Industries, Shops und Gastronomie wird als Impulsgeber genannt. Im Auftrag der Stadt Linz hat der Vorstand des Instituts für Organisation der Johannes Kepler Universität, Univ.-Prof. Dr. Robert Bauer, eine Vorstudie zur Nutzung der Tabakfabrik ausgearbeitet.

Die 2009 publizierte Studie sieht drei mögliche Szenarien vor: Die Tabakfabrik wird zur Kreativstadt und setzt auf den durch Ars Electronica und Kunstuni bereits bestehenden technologieorientierten Zugang zu Kunst und Kultur. In diesem Szenario etabliert sich Linz mittels einer groß angelegten Kulturoffensive als „Web City“, als zentraler Ort des Industrial Designs und ermöglicht mit einem Büro für Kunstsupport die Durchführung von verschiedensten Kunstprojekten. So viel Kunst – und vor allem so viele Künstlerinnen und Künstler – brauchen Platz. Die Tabakfabrik ist in diesem Szenario Ort für Atelierwohnungen, Werkstätten, Unternehmen der Creative Industries, Ausstellungsräume und ein Kulturzentrum, das offene Bedürfnisse der Linzer Kulturszene abdeckt. Gastronomie, Wohn- und Büromöglichkeiten sind ebenfalls Teil des Konzepts. Das zweite mögliche Szenario sieht eine Universität, eine postgraduale Bildungseinrichtung und eine Kultureinrichtung als Kernelemente der Nutzung vor. Die Exzellenz-Variante schließt kreativwirtschaftliche Betriebe, Gastronomie und Wohnraum ebenso in die Konzeption mit ein, wie schon die erste Variante der Kreativstadt – wenn auch zu einem geringeren Anteil. Das dritte und letzte Szenario Jugend, Toleranz und Material entwirft die Tabakfabrik als Ort des Miteinanders. Verschiedene Zielgruppen wie Kinder, Kreative, Menschen mit Behinderungen und Familien wohnen, arbeiten, lernen und verbringen ihre Freizeit am Gelände der Tabakfabrik. Im Fokus steht dabei vor allem gelebte Interkulturalität.

Kultur als Schlüsselfaktor der Stadtentwicklung

Nun liegt es an der neu gegründeten Entwicklungsgesellschaft, die künftigen Nutzungsmöglichkeiten des Areals auszuloten und die Szenarien auf ihre tatsächliche Umsetzbarkeit hin zu überprüfen. Reinhard Niedermayr, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft, hat bereits eine Mischung der drei Szenarien als wahrscheinlichste Variante angedeutet. Die ehemalige „Tschickbude“ wird – egal, wofür sich die Stadt Linz und die hinzugezogenen Experten letztendlich entscheiden – zum wichtigen Impulsgeber für die gesamte Entwicklung der Stadt Linz, weg von der wirtschaftlich-industriellen Brandmarkung durch die Voest, hin zu einem Zentrum der Wissens- und Kreativgesellschaft, werden. Ein historischer Ort wie die Tabakfabrik, der in diesem Maße neu definiert wird, ist aber vor allem auch auf das Engagement und die Ideen der Menschen angewiesen, die sich dort niederlassen. Die Zukunft von Linz als „Kreativstadt zwischen Wien, Prag und München“ kann damit schon sehr bald Gegenwart werden.

Termine:

repair. Sind wir noch zu retten

Ars Electronica 2010

Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft

Linz, 2. bis 7. September

www.aec.at/repair

Tabakfabrik Linz. Kunst und Architektur für Austria Tabak

24. September 2010 bis 23. Jänner 2011

Linz, Nordico

www.nordico.at

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