Eine Dokumentation über Leben und Werk der Fotografin Libuše Jarcovjáková rückt deren Fotos in den Vordergrund und zeichnet dabei zugleich ein visuelles Porträt der letzten Jahrzehnte.

Der Alltag von Fabriksarbeiter*innen und Nächte in queeren Clubs, der Trubel in Städten wie Tokio oder Berlin und Selbstporträts, die damals noch nicht Selfies hießen: Das fotografische Schaffen der am 5. Mai 1952 in Prag geborenen Fotografin Libuše Jarcovjáková ist vielseitig. Immer wieder versucht die Künstlerin, aus dem sozialistischen Alltag raus- und näher zu sich selbst hinzukommen. Der Film »Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte«erzählt ihr Leben anhand ihrer Fotografien. Wir sehen Jarcovjákovás Lebensstationen in Städten, in Jobs, im Hadern mit sich selbst und in der Community ihres Freund*innenkreises. Aus dem Off liest die Künstlerin aus ihren damaligen Tagebüchern. Im Interview mit The Gap erzählt die tschechische Regisseurin Klára Tasovská über Jarcovjáková, die Dreharbeiten und das Medium Fotografie.

Wie bist du auf die Fotografin Libuše Jarcovjáková aufmerksam geworden?
Klára Tasovská: Ich kannte Libuše zwar, war aber mit dem Umfang ihres Werks nicht vollständig vertraut, weil sie nur selten ausstellte. Ihre Fotoserien aus dem legendären T-Club hatte ich gesehen, aber erst mit ihrer ersten großen Einzelausstellung auf dem Fotofestival in Arles, Frankreich, wurde eine breitere Öffentlichkeit auf sie aufmerksam. Die Ausstellung wurde mit hohem Lob bedacht und von der britischen Tageszeitung The Guardian zur Ausstellung des Jahres 2019 gekürt. Später wurde ich von der Redaktion des öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehens Česká televize angesprochen, ob ich Interesse hätte, ein dokumentarisches Porträt von Libuše zu erstellen. Als ich sie zum ersten Mal traf, war ich zutiefst fasziniert von ihrer Persönlichkeit, ihrer Geschichte und den Fotos, die ihr bemerkenswertes Leben dokumentieren.
Wie würdest du ihre Fotografien einer Person beschreiben, die diese nicht kennt?
Libušes Fotografien sind roh, unmittelbar und authentisch und halten oft sehr intime Momente aus ihrem Leben fest. Erst bei der Durchsicht ihres Archivs wurde das Ausmaß ihres systematischen Ansatzes zur Dokumentation ihrer eigenen Existenz deutlich. Die schiere Anzahl der Selbstporträts, die sie seit ihrem 16. Lebensjahr bis heute aufgenommen hatte, überraschte Libuše sogar selbst. Zu jener Zeit war eine solche Praxis alles andere als üblich, doch heute wirkt sie wie ein zusammenhängendes konzeptionelles Projekt. Libuše beschreibt ihre Fotografie als einen Weg, ihre Existenz zu bejahen und die Situationen und Umstände ihres Lebens zu einem bestimmten Zeitpunkt zu reflektieren. In vielerlei Hinsicht dient ihre Arbeit als eine tiefgründige visuelle Autobiografie.
Wann entstand dann der Wunsch, einen Dokumentarfilm über Libuše Jarcovjáková zu machen? War sie selbst gleich an dem Projekt interessiert?
Wie ich bereits erwähnte, wurden wir von Česká televize vorgestellt, das später zum Co-Produzenten des Films wurde. Nach ihrem Erfolg in Arles wurde Libuše von mehreren anderen Dokumentarfilmregisseur*innen angesprochen, sodass sie sich der Idee mit Vorsicht näherte. Bei unserem ersten Treffen erklärte ich ihr, dass ich den Film so weit wie möglich aus ihrer Sicht erzählen wollte. Der Aufbau einer engen Beziehung zu einem Dokumentarfilmthema ist immer ein schrittweiser Prozess, aber ich glaube, was uns einander näherbrachte, waren unsere gemeinsame Weltsicht, ähnliche Vorlieben und meine persönliche Verbindung zu Libušes Geschichte. Mein Ziel war es, sie vollständig aus ihrer Perspektive zu erzählen.
Wie kam die österreichische Co-Produktion des Films zustande?
Während der Entwicklungsphase stellten wir den Film bei einem Workshop des Instituts für Dokumentarfilm in Prag vor, an dem auch der Produzent Ralph Wieser von Mischief Films teilnahm. Das Projekt fesselte ihn so, dass er sich frühzeitig an der Co-Produktion beteiligte – noch bevor wir die Form und die künftige Richtung des Films vollständig festgelegt hatten.

Der Film hat eine ungewöhnliche Ästhetik: Fotografien der Künstlerin sind nacheinander montiert, während diese aus dem Off aus ihren Tagebüchern liest. Wie kam es zu dazu?
Ich dachte darüber nach, wie ich an eine Geschichte herangehen soll, die weitgehend in der Vergangenheit stattgefunden hat. Mein Ziel war es, dem Publikum eine einzigartige Perspektive zu bieten und ihm zu ermöglichen, die Welt durch Libušes Augen zu sehen, wenn auch nur für einen Moment. Während meines Studiums an der Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste in Prag hatte ich mit der Erstellung von Kurzfilmen auf der Grundlage von Fotografien experimentiert. Daher war mir das Potenzial vertraut, das die Kombination von Bildern, Sounddesign, Musik und Voiceover haben kann, eine eigene Welt zu schaffen. Dann brach die Pandemie aus und wir saßen zu Hause fest, ohne die Möglichkeit zu filmen. In dieser Zeit begann Libuše zum ersten Mal in ihrem Leben, ihre gesamte Sammlung von Fotos aus Japan einzuscannen. In diesen Bildern sah ich ihr Leben in jedes Bild eingeprägt. Ich las ihre Tagebücher – und mir wurde an diesem Punkt die Richtung für den Film klar.
Warum hast du auf »klassische« Mittel des Dokumentarfilms, wie Interviews oder neu gedrehtes Material verzichtet?
Libuše hat mir zu Beginn gesagt, dass sie auf keinen Fall als sprechender Kopf in dem Film auftreten möchte, und ich war damit einverstanden. Ich wollte unbedingt ihre Perspektive, ihre damaligen Gedanken bewahren, damit ihre Geschichte, ihre Suche und die Entwicklung ihrer Persönlichkeit auf der Leinwand lebendig werden. Ich wollte nicht meine eigenen Bilder in die Geschichte einbringen, sondern die Sichtweise aus ihrer Perspektive beibehalten. Das erschien mir als der reinste und stärkste Ansatz.
Was kann uns der Film über das Medium Fotografie sagen? Wie siehst du das Verhältnis der beiden Medien?
Ich glaube, dass die Fotografie eine außergewöhnliche Kraft besitzt, weil sie einen einzigen Moment einfrieren kann und die Betrachter*innen zu einer tiefgründigen und kontemplativen Beobachtung einlädt. Die Zeit, die man mit dem Anschauen eines Standbildes verbringt, kann sich unendlich anfühlen, da man in einem einzigen Bild völlig aufgehen kann. Film und Fotografie sind jedoch von Natur aus miteinander verwoben – beide beinhalten die Kunst, Momente festzuhalten und Geschichten mittels visueller Sprache zu erzählen. Aber Film fesselt auf eine andere Weise. Indem er eine Reihe von eingefangenen Momenten miteinander verbindet, bildet er einen kontinuierlichen Faden, der – in Kombination mit dem Ton – das Publikum in ein fließendes, dynamisches Erlebnis eintauchen lässt. Wir wollten die Stärken beider Medien nutzen, indem wir die Standfotografie mit Bewegung und vielschichtigen Klanglandschaften kombinierten und gleichzeitig den konventionellen Fluss nahtloser Bilder im Film dekonstruierten. Auf diese Weise wollten wir die Zuschauer*innen dazu anregen, ihre Vorstellungskraft zu aktivieren und ihr Gehirn dazu zu bringen, den Film auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen und zu verarbeiten.
Welche Herausforderungen ergaben sich bei der Sichtung so einer großen Anzahl an Fotografien und Tagebucheinträgen? Nach welchen Kriterien hast du das Material ausgewählt? War Libuše Jarcovjáková in die Auswahl involviert?
Die größte Herausforderung war sicherlich das Durchforsten von Libušes Archiv, das nicht besonders gut organisiert war. Es gab zwar gute Scans von Fotos, die sie ausgestellt oder veröffentlicht hatte, aber wir waren auch auf der Suche nach Bildern mit Bewegung und vor allem nach Libušes Präsenz. Das bedeutete, in die Negative einzutauchen, sie zu überprüfen und zu scannen. Es war sehr hilfreich, dass ich die Geschichte chronologisch erzählte und in Hauptkapitel unterteilte. Zusammen mit dem Redakteur Alexander Kashcheev haben wir dann jedes Kapitel einzeln aufgebaut. Die Konzentration auf kleinere, in sich geschlossene Einheiten war unglaublich nützlich. Wir erstellten eine Struktur für jedes Kapitel und suchten nach Fotos, die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen der Geschichte herstellen konnten. Libuše gab uns während des gesamten Prozesses völlige Freiheit. Was sie am meisten interessierte, war, wie wir uns mit ihrem Material auseinandersetzen würden, was wir darin sehen würden und was das Endergebnis über sie aussagen würde. Sie war eine ausgezeichnete Beraterin, aber die eigentliche Arbeit lag ganz in unseren Händen.

Libuše Jarcovjákovás Fotografien zeigen oft Menschen aus marginalisierten Gruppen, wie etwa aus der LGBTQIA*-Szene oder Gastarbeiter*innen. Welche Geschichte(n) erzählen uns diese Fotos heute?
Es stellte sich heraus, dass Libušes Fotos aus dem T-Club wirklich einzigartig sind; niemand sonst hielt die queere Szene zu dieser Zeit auf diese Weise fest – nicht nur im T-Club, sondern innerhalb der gesamten queeren Community. Ein Buch mit ihren Fotos aus dem T-Club wurde später vom Verlag Untitled veröffentlicht und enthält auch zwei ausführliche Essays über die Situation von queeren Personen in der Tschechoslowakei während der Zeit der kommunistischen »Normalisierung«. Der historische Kontext ist unbestreitbar faszinierend – es ist ein Einblick in die verborgene Seite des sozialistischen Lebens, wo sich die marginalisierte, damals nicht akzeptierte queere Community heimlich versammelte. Gleichzeitig sind Libušes Fotos zutiefst künstlerisch und fangen eine Sehnsucht nach Freiheit, Freude und Lebendigkeit ein, selbst in Schwarz-Weiß. Ähnlich wie jene Serien, in denen sie vietnamesische Arbeiter*innen und Roma-Gemeinschaften dokumentiert, enthüllen diese persönlichen Sammlungen die gelebte Realität von Minderheiten und marginalisierten Personen während des tschechoslowakischen Sozialismus.
Deine Dokumentation und die darin vorkommenden Fotos zeigen nicht nur das Leben und die Identitätssuche der Künstlerin, sondern sie zeichnen zugleich ein visuelles Porträt der vergangenen Jahrzehnte. Gab es historische Momente, auf die du einen besonderen Fokus legen wolltest?
Wir waren entschlossen, Libušes intime, persönliche Geschichte in einen breiteren gesellschaftspolitischen Kontext zu stellen. Für uns war es wichtig, herauszustellen, worauf sie reagierte, woher sie kam und was sie so stark beeinflusste. Die sowjetische Invasion von 1968 und ihre unmittelbaren Auswirkungen auf ihr Leben – sie konnte nicht mehr studieren und musste stattdessen als Fabriksarbeiterin Geld verdienen – waren entscheidende Momente, die nicht nur sie, sondern auch ihre Sichtweise veränderten. Außerdem wollten wir die Kontraste zwischen Ost und West hervorheben – ihre Reisen nach Tokio und Berlin standen im Kontrast zur Tschechoslowakei in der Zeit der Normalisierung. Der Fall der Berliner Mauer und die Samtene Revolution waren ebenfalls Schlüsselmomente. Wir haben unseren Film als eine Geschichte einer inneren und äußeren Revolution definiert.
So wie die historischen Momente haben auch bestimmte Städte – etwa Prag, Tokio und Berlin – das Leben von Libuše Jarcovjáková geprägt. Wie haben sich diese Städte in ihren Fotografien über die Jahrzehnte verändert? Wie wichtig war es dir, auch diese städtische Entwicklung nachzuzeichnen?
Ich finde es wirklich toll, wie Libuše die Berliner Mauer und ihren Abriss eingefangen hat – das sind einzigartige Momente, die es uns ermöglicht haben, den historischen Kontext des Films aufzubauen. Und natürlich sind ihre Fotos aus Tokio ein Zeugnis für diese Zeit; alles sieht heute so anders aus. Ähnlich wie in der Tschechoslowakei sind selbst die scheinbar kleinen Details – Schaufenster, Warteschlangen, Straßen und das Leben der einfachen Leute – bedeutende Relikte dieser Zeit.
Die Musik im Film unterstreicht insbesondere verschiedene Bilder aus Clubs. Wie sah das Konzept für die musikalische Gestaltung aus?
Von Anfang an beschlossen der Cutter Alexander Kashcheev, der auch als Haupt-Sounddesigner für den Film fungierte, der Produzent Lukáš Kokeš und ich, zeitgenössische Musik zu verwenden, um die Geschichte Libušes – die vor etwa 50 Jahren begann – näher an die Gegenwart zu bringen. Außerdem brauchten wir einen Rhythmus, um das Tempo der Fotomontage zu steuern. Das Besondere an diesem Film war, dass er komplett im Schneideraum entstanden ist. Wir mussten jeden Ton, jedes Musikstück und jedes Voiceover finden oder aufnehmen. Schritt für Schritt. Ohne Ton konnten wir nicht vorankommen – alles musste perfekt in den Schnitt integriert werden. Gleichzeitig wollten wir, dass die Musik dynamisch ist und die Stimmungen und den Erzählstil des Films widerspiegelt. Deshalb arbeiteten wir mit drei Hauptkomponist*innen zusammen und ergänzten ihre Beiträge mit bereits vorhandenen Stücken anderer Künstler*innen.
Der Film »Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte« von Klára Tasovská ist ab 21. März 2025 in den österreichischen Kinos zu sehen.