Als Punkerin Maja plötzlich in die WG von Ingo einzieht, prallen Lebensrealitäten aufeinander. Der sorgsam recherchierte und fein inszenierte Kurzspielfilm »Alles ist hin« zeigt, wie kleine und große Katastrophen des Lebens ganz nah beieinanderliegen. Der Film ist neu in der Cinema Next Series kostenfrei zu streamen. Wir haben Regisseur und Autor Jan Prazak zum Interview gebeten.
»Alles ist hin« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.
In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Alles ist hin«?
Jan Prazak: »Alles ist hin« erzählt die Geschichte zweier Menschen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Die wohnungslose Punkerin Maja taucht in der WG des Musikers und Faulenzers Ingo auf, der vom Geld seiner Mutter lebt. Beide haben Baustellen in ihrem Leben, die sie in Ordnung bringen müssen. Beide versuchen etwas zu reparieren, das kaputt gegangen ist.
Ingo, der ein scheinbar sorgloses Leben führt; Maja, die durch einen tragischen Vorfall in die Obdachlosigkeit schlitterte. Was hat dich am Zusammentreffen dieser beiden Figuren interessiert?
Ich fand es spannend, diese Welten aufeinanderprallen zu lassen und wollte mit den Klischeevorstellungen spielen, die beide voneinander – und auch wir als Zuschauer*innen – haben. Mit der Zeit begreifen wir, dass die zwei einander ähnlicher sind, als es den Anschein hat. Außerdem füllen sie eine Lücke im Leben des jeweils anderen aus: Maja, die ihren Sohn vermisst, zu dem die Beziehung in die Brüche gegangen ist, wird zu einer Mutterfigur für Ingo, der jemanden wie sie braucht.
Maja wird gespielt von der wie immer wunderbaren Schauspielerin Claudia Martini. Wie seid ihr ihre Figur und ihr Schauspiel angegangen? Auch angesichts dessen, dass ihr im Film mit realen Obdachlosen dreht.
Ich bin nicht nur Regisseur und Drehbuchautor, sondern gestalte auch Radiosendungen für Ö1. Vor einigen Jahren habe ich eine Sendung über Obdach- und Wohnungslosigkeit gemacht und eine Frau namens Jana kennengelernt, auf deren Geschichte der Film basiert. Ich war fasziniert von ihr und ihrer Geschichte und zunächst war geplant, dass sie sich selbst spielt. Wir haben zwei Jahre lang vorbereitet und geprobt, doch schlussendlich konnte sie nicht dabei sein, weil es ihr aufgrund ihrer Lebensumstände einfach nicht gut genug ging. Ich wollte das Projekt schon abbrechen, habe dann aber doch versucht – mit Janas Erlaubnis – eine Schauspielerin zu finden. Ich bin sehr glücklich mit Claudia Martini, die wunderbar improvisieren kann und total offen auf Menschen zugeht. Die anderen Punks im Film sind alle echt und haben sie sofort ins Herz geschlossen.
Mir war wichtig, dass sich die Szenen dokumentarisch anfühlen und so gab es nur wenige Vorgaben. Es wurde viel improvisiert, etwa in der Szene, in der Maja und die Punks um Geld schnorren, oder wenn sie mit Rudi, dem Augustin-Verkäufer, um die Häuser zieht. Da sind Dinge entstanden, die ich mir nie hätte ausdenken können. Auch Ingo ist Laiendarsteller. Die Szenen mit ihm waren gescriptet, aber trotzdem hatten beide viele Freiheiten.
Der Film beruht also auf einer wahren Geschichte und du hast zum Thema Obdachlosigkeit auch viel recherchiert. Was hast du dabei erfahren, gelernt?
Durch meine Bekanntschaft mit Jana habe ich viel gelernt. Sie hat mir die Orte gezeigt, an denen sie schläft, mir ihre Freund*innen vorgestellt und natürlich ihre Geschichte mit mir geteilt. Ich habe miterlebt, wie sie einen Job in einer Bäckerei fand und ihn wieder hinschmiss, was für mich völlig unverständlich war. Aus ihrer Perspektive, nach so vielen Jahren auf der Straße und auf sich allein gestellt, war es aber vollkommen logisch, dass sie sich nicht in diese strengen Strukturen einfügen konnte und wollte. All diese Erlebnisse sind ins Drehbuch eingeflossen.
Nachdem klar war, dass Jana nicht mitspielt, habe ich mich trotzdem regelmäßig mit den anderen Punks getroffen, allen voran mit Jacky und Daniel, die im Film mit Maja schnorren. In dieser Zeit haben wir auf der Donauinsel gegrillt, ich wurde gezwungen – das kann man wirklich so sagen, Daniel akzeptiert da kein Nein – mich zu betrinken, und habe sogar jonglieren gelernt. Das war toll und auch wichtig, um die Protagonist*innen wirklich kennenzulernen und dem Thema gerecht zu werden. Ich glaube, ohne zu recherchieren kann man so einen Film nicht machen, sonst reproduziert man selbst wieder nur Klischees.
Im Film sind oder gehen viele Dinge »hin«, also kaputt, schief. Selbst die Youtube-Videos, die sich Maja anschaut, sind immer Unfälle des Lebens, über die man lachen kann. Aber Maja musste selbst erfahren, wie eine unbedachte Handlung sie ins Unglück stürzt. Ist das die schmale Gratwanderung des Lebens – zwischen Kleinigkeiten ohne Konsequenzen und jenen, die katastrophal enden können?
»Alles ist hin« entspringt ja dem berühmten Kinderlied über den »lieben Augustin« und Augustin ist auch der Name der bekannten Wiener Obdachlosenzeitung. Beides verbindet man nicht mit schwerem Leid oder Kummer – trotz all der Tragik, die zweifellos in vielen Schicksalen steckt. Tatsächlich scheinen sich manche Menschen, die vieles verloren haben, eine gewisse Leichtigkeit bewahrt zu haben. Zumindest entspringen die besagten Youtube-Videos auch der Recherche, mir selbst wären die wahrscheinlich nie eingefallen. Jana hat sich darüber kaputtgelacht und mich hat ihre Leidenschaft dafür fasziniert.
Für mich war irgendwann klar, dass möglichst viel in dem Film kaputt sein soll oder schiefgehen muss, angefangen von Ingos Handydisplay über Unfälle und Schicksalsschläge bis hin zur Toilettenspülung. Im »Hin«-Sein liegt das Tragische, aber eben auch der Humor und damit etwas Befreiendes, eine Selbstermächtigung. Diese Tonalität hat mir für den Film sehr gefallen. Ingo und Maja versuchen mit aller Kraft etwas zu reparieren, das in die Brüche gegangen ist, und wenn es nur das Klo ist. Am Schluss scheitern und triumphieren sie gleichzeitig.
Eine schöne Szene ist, als Ingos Band für Freund*innen auf der Dachterrasse ein Konzert spielt und Maja die Szene von etwas abseits betrachtet. Die beglückte Sorglosigkeit der jungen Leute kann Maja nur noch beobachten, aber wohl selbst nicht mehr fühlen. Was ist deine Hoffnung für jemanden wie Maja? Kann sie jemals wieder sorglos und glücklich sein?
Ich glaube, das kann man von außen ganz schwer beurteilen. Jemand wie Maja – oder Jana – ist schon so oft in ihrem Leben hingefallen und wieder aufgestanden. Da gibt es natürlich Traurigkeit und Schmerz, aber gleichzeitig so viel Widerständigkeit und Stärke. Und, wie schon angesprochen, den Humor. Aber wie überall sind in diesem Milieu die Menschen so unterschiedlich und sie gehen ganz verschieden mit ihrer Situation um.
Gibt es für dich eine Szene im Film, die du besonders magst, und falls ja, warum?
Es gibt einige Szenen, die ich besonders mag. Meistens sind es Szenen, in denen etwas Unvorhergesehenes entstanden ist. Wir haben bewusst versucht, Räume zu schaffen, in denen Zufälle passieren können, denn wenn man den Dingen ihren Lauf lässt, wird man oft positiv überrascht. Etwa beim Dachterrassenkonzert und der Party danach, bei den Szenen mit den Punks und Rudi, dem Augustin-Verkäufer. Ich mag auch die Szene, in der Ingo und Maja bekifft auf der Dachterrasse liegen, er Gitarre spielt und sie Gummibärchen isst. Im Film ist das ein Moment, in dem sich die beiden plötzlich ganz nah sind, im Drehbuch war das gar nicht so angelegt. Erst die Situation vor Ort – die Melodie, die Ingo zupft, und wie Claudia ihn aufzieht – hat diese Nähe erzeugt.
Eine Interview-Reihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.