»Am Ende bleibt ein verwaschenes, traumgleiches Gefühl«, sagt Laura Weissenberger über ihren Kurzfilm »Erde essen«. Aus diffusen Bildern, Erzählungen, aus eigenen wie kollektiven Erinnerungen und Projektionen schafft die Filmemacherin dem Gedächtnis ihrer kolumbianischen Wurzeln einen filmischen Raum: Ein surreal-taktiler, fragmentarischer Kosmos, in dem unzählige Geschichten und geisterhafte Figuren wohnen. »Erde essen« ist neu in der Cinema Next Series kostenfrei zu streamen. Wir haben Laura Weissenberger zum Interview gebeten.
»Erde essen« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.
In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Erde essen«?
Laura Weissenberger: »Erde essen« ist eine persönliche Reise in meine Erinnerungen an einen Heimatort, den es so nie gegeben hat. Der Film ist die Erforschung eines Gefühls, das sich aus Bildern speist, die wiederum etwas mit kollektiver Erinnerung und der Art und Weise, wie sich Erinnerungen zusammensetzen, zu tun haben. Ein Mädchen springt in verschiedene Geschichten, die in verschiedenen Räumen leben und zusammen ein Haus ergeben. Das Mädchen ist jedoch mehr ein Geist oder Avatar als eine real existierende Person, und so verhält es sich mit den anderen Figuren irgendwie auch. Verwandtschaftsverhältnisse verschwimmen genauso wie die Grenze zwischen Fiktion und dokumentarischer Realität. Am Ende bleibt ein verwaschenes, traumgleiches Gefühl, ein Abdruck einzelner Impressionen auf der Retina.
Du lebst und arbeitest als Filmemacherin und Theaterschaffende in Österreich, beschäftigst dich in »Erde essen« aber mit den Geschichten kolumbianischer Frauen. Woher kommt die Idee zum Film und wie ist dein Bezug zu diesen Frauen, zu ihren Geschichten und zur kolumbianischen Kultur?
Als in Kolumbien Geborene, aber in Österreich Sozialisierte habe ich mich immer so gefühlt, als ob der Teil, den andere ganz selbstverständlich als »Heimat« oder »Zugehörigkeit« bezeichnen, für mich nicht greifbar ist. Es gab nur diffuse Bilder, gespeist aus Fotos, den Erzählungen meiner Eltern und einem Phantomschmerz. Durch die komplizierte Familiengeschichte meiner Mutter, die seit 1997 selbst nicht mehr in Kolumbien gewesen ist, hatte ich keine Beziehung zu meinen dort verbliebenen Verwandten, nur zu sehr guten Freund*innen, die auch alle im Film mitspielen. Im Zuge des Projekts habe ich mich meiner Familie wieder angenähert, Interviews geführt, sie besucht und mich stärker mit meiner Geschichte auseinandergesetzt.
Der Film war fast wie ein Schutzschild, der mir ermöglicht hat, meiner Biografie mit der nötigen Distanz zu begegnen. Mit den Frauen und Männern im Film bin ich durch enge Freundschaft und teilweise durch Verwandtschaft verbunden, aber auch durch Geschichten von Verlust, Schmerz, Sehnsucht und Freude. Die Geschichten, die sie erzählen, sind oft nicht ihre eigenen, und doch gibt es so etwas wie einen kollektiven Erzählkörper, in dem wir uns für diesen Film getroffen haben und über den die Darsteller*innen gewisse Narrative nachempfinden konnten.
»Das ist das Haus, an das ich mich erinnere«, heißt es zu Beginn im Voiceover. Die »Architektur« dieses Hauses ist speziell, es lässt sich nie in seiner Gänze erschließen, sondern bleibt eine rätselhaft verworrene Konstruktion aus Fragmenten. War die Struktur des Films bereits vor dem Dreh Einstellung für Einstellung durchgeplant oder ist sie im Montageprozess entstanden?
In der Planungsphase des Films hatte ich den Grundriss eines Hauses gezeichnet, das aus den einzelnen Räumen der Orte meiner Erinnerung besteht. Immer wenn ich an Kolumbien gedacht habe, habe ich diese Orte als einen zusammenhängenden Ort visualisiert, dessen Geschichten on repeat in diesen Räumen spielen. Vor Ort sind dann noch Szenen und Orte hinzugekommen, gescriptete Bilder haben sich spontan erweitert. Vieles ist auch durch die Zusammenarbeit und Beobachtungsgabe meiner Komplizinnen Marie Sturminger und Sophia Wiegele entstanden. Die Montage mit Samira Ghahremani war dann jedoch das finale Zusammensetzen der Puzzlestücke. Wir hatten Unmengen an Material und mussten uns in langen Schnittsessions an eine stimmige Anordnung der Szenen und Räume herantasten, es wurde kondensiert und ein Faden durch das Labyrinth gelegt: das Mädchen, das durch die Geschichten springt.
Die Beschaffenheit der Böden unter nackten Füßen, die Texturen von Stoffen, die Konsistenz von feuchter Erde – fast glaubt man, die Objekte, Körper und Räume fühlen, riechen oder gar schmecken zu können. Wie und nach welchen Kriterien hast du diese taktil-sinnlichen Bilder (aus-)gesucht und gefunden?
Das war eine Entwicklung, die vor Ort und auch gemeinsam mit meinem Team stattgefunden hat. Für viele Bilder habe ich aber auch gezielt versucht herauszufinden, wie Wahrnehmung funktioniert und welche Komponenten das Gefühl an einem Ort ausmachen. Zusammen mit dem Sounddesigner Matthias Ermert haben wir stundenlang an einem Sound gebastelt, der uns fast schon plastisch nah an das Gezeigte heranführt. Denn für mich war es das Zusammenspiel vieler kleiner Details und Geräusche, der subjektive Blick der Kamera, welche dieses Gefühl von Immersion erzeugt, das ich für den Film wollte.
In meiner Erfahrung fragmentieren sich die Bilder mit der Zeit und werden zu einem anachronistischen abstrakten Traum. Um diesen Traum zusammenzuhalten und die Behauptung eines Hauses zu verstärken, hatte ich zuvor in den Häusern meiner Freund*innen und Verwandten nach Gegenständen und Bildern gesucht, die sich wiederholen, die in jedem familiären Heim gleich sind. So bin ich unter anderem auf die Bilder der frisch kommunierten Mädchen in weißen Kleidern neben den frisch verheirateten jungen Frauen in ebenfalls weißen Kleidern gestoßen. Diese Bilder haben mich nicht mehr losgelassen, aber auch die Fliesenböden, die betonierten lavaderos, die immer gleichen Fotografien der Männer mit Krawatte und Seitenscheitel haben Eingang in das Haus gefunden.
Du hast an der Akademie der bildenden Künste Bühnengestaltung studiert. In deiner filmischen Arbeit gibt es ein ständiges Changieren zwischen Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremde, nicht zuletzt zwischen dokumentarischem Gestus und expressiver, bühnenhafter Inszenierung. Wie hast du diese Wechselverhältnisse für »Erde essen« austariert, insbesondere in der Zusammenarbeit mit den Darsteller*innen?
Dieses Verhältnis von Nähe und Distanz, von dem du sprichst, ist meinem Verhältnis zu diesen Erinnerungen sehr ähnlich. Als ich das erste Mal in der Küche meiner Familie in Cali stand, bin ich sofort in Tränen ausgebrochen ob meiner offensichtlichen Andersheit. Dieses Gefühl von Vertrautheit und Fremde war auch unser Gefühl beim Dreh. Wir waren gewissermaßen Eindringlinge, die so behutsam wie möglich versucht haben, etwas einzufangen, das nicht uns gehört. Dieser schmale Grat im dokumentarischen Arbeiten löst in mir immer noch Unbehagen aus, auch im Zusammenhang mit meiner privilegierten Position, als Weiße nach Kolumbien zu kommen und dort einen Film zu drehen.
Im Film würde ich unterscheiden zwischen den »Interview«-Szenen, die von Anfang an feststanden und inszeniert waren, und dem Rest. In der Zusammenarbeit mit den Darsteller*innen war es mir in diesen Interviewszenen wichtig, eine klare Aufgabe zu formulieren, etwa das Trainieren am Sportgerät oder kontemplatives Planschen im Wasser, um die Konzentration weg von der Kamera zu lenken. Sie alle haben sich jedoch als professionelle Geschichtenerzähler*innen entpuppt und oft war der erste oder zweite Take der beste. Auch die Räume sind tatsächlich bis auf ein paar gesetzte Details weniger inszeniert, als sie wirken.
Hast du eine persönliche Lieblingsszene in »Erde essen«, und wenn ja, kannst du erklären, was diese Szene für dich besonders macht?
Es gibt einige Szenen, die ich sehr liebe, aber eine Stelle, die mich immer noch sehr berührt, ist der Moment, in dem Señora Marina von ihrer verhinderten Jugendliebe erzählt, plötzlich stockt und den Faden verliert. Obwohl sie diese Geschichte wahrscheinlich schon zum tausendsten Mal erzählt, hat sie für einen Augenblick vergessen, was sie eigentlich erzählen möchte. Dieser Moment erinnert mich daran, dass unsere Erinnerungen aus dem bestehen, was nicht vergessen wurde, und mit der Zeit kondensieren, bis sie irgendwann verschwinden. Die Szene zeigt auch die Gewöhnung an das aus patriarchalen Strukturen entstandene Leid, die eine immense Erschöpfung auslöst, die in den anderen Geschichten auch spürbar wird.
Eine Interview-Reihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.