»Die Aufgabe der Kunst ist, sich mutig auf Komplexität und Wider­sprüchlichkeit ein­zulassen« – Kálmán Nagy im Interview zu »Das andere Ende der Straße«

In »Das andere Ende der Straße« verhandelt Regisseur Kálmán Nagy die Konfrontation zweier Väter über einen Konflikt ihrer Söhne – und beschäftigt sich dabei mit großen Themen wie Herkunft, Gewalt, Moral, Schuld und Unschuld. Der Kurzfilm gewann 2023 bei der Diagonale in Graz einen Drehbuchpreis und beim renommierten Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken die Auszeichnung »Bester Kurzfilm«. Nun ist er in der Cinema Next Series kostenfrei zu streamen. Im Interview erzählt uns der Filmemacher unter anderem, warum ihn Fragen der Elternschaft und der Eltern-Kind-Beziehung in seinen Filmen besonders interessieren.

© Kálmán Nagy / Lemonade Films — Der neunjährige Ábel mit seinem Vater (gespielt von Zsolt Nagy); Filmstill aus »Das andere Ende der Straße«

»Das andere Ende der Straße« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regel­mäßig auf der Streaming­plattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Film­talenten präsentiert.

In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Das andere Ende der Straße«?

Kálmán Nagy: Ein zehnjähriger Junge wird in der Schule von einem Mitschüler angegriffen. Daraufhin sucht sein Vater die Eltern des Mitschülers auf, um den ständigen Belästigungen seines Sohnes ein Ende zu setzen. Doch das Gespräch verläuft anders als erhofft.

Du hast auch selbst das Drehbuch zu deinem Film geschrieben. Was hat dich zu dieser Geschichte inspiriert?

Man neigt oft dazu, in stereotypen Täter-Opfer-Beziehungen zu denken, auch wenn es um Mobbing in der Schule geht. Ich wollte den familiären Back­ground eines Kindes genauer beleuchten, das in der Schule als aggressiv oder problematisch angesehen wird. Außerdem hat mich die dramatische Grund­situation interessiert: Was passiert, wenn der Vater anklopft und die Tür aufgeht? Was sagt er? Wie artikuliert er sein Anliegen in einem Haushalt, in dem es ganz andere Umgangs- und Erziehungs­formen gibt? Nicht zuletzt sind auch meine persönlichen Erfahrungen mit dem Thema verwurzelt.

Was ist dein persönlicher Bezug zu Ungarn, dem Drehort des Films?

Ich bin in einem kleinen ungarischen Dorf auf dem Land auf­gewachsen, und die Dreh­arbeiten fanden in einem Nachbar­dorf statt. Seit zwölf Jahren lebe ich in Wien, aber das ländliche Milieu Ungarns inspiriert mich bis heute und ist etwas, das ich sehr gut kenne. In meinem Heimatdorf Herend gibt es übrigens eine welt­bekannte Porzellan­fabrik, deren Produkte auch in Österreich verkauft werden, unter anderem in der Kärntner Straße in Wien.

Ein Vater im Konflikt mit seinem Sohn, …
… der sich in einem Lügengeflecht verfangen hat; Filmstills aus »Das andere Ende der Straße« © Kálmán Nagy / Lemonade Films

Wie hat das Casting für den Film ausgesehen? Sind die Protago­nist*innen Lai*innen oder aus­gebildete Schaus­pieler*innen und wie war euer Prozess?

Für die Rolle des Vaters habe ich einen berühmten ungarischen Schauspieler, Zsolt Nagy, vorgesehen, in der Hoffnung, dass er die Rolle annehmen würde. Ich habe das Drehbuch für ihn geschrieben. Da ihm das Buch sehr gut gefallen hat, hat er sofort zugesagt. Die anderen Darsteller*innen sind Lai*innen. Für ihre Rollen gab es ein klassisches Casting. Aber die größte Heraus­forderung war es, den Haupt­buben zu finden. Ich habe mir etwa 80 Kinder angeschaut. Beim Casting war die wichtigste Frage, ob er in der dramatischen Situation gleichzeitig weinen und spielen kann. Wir haben also daran gearbeitet, die emotionalen Voraus­setzungen dafür beim Casting zu ermöglichen. Es gab nur einen Jungen, der die Sensibilität und emotionale Intelligenz für die Rolle hatte. Er ist unglaublich talentiert.

Dein filmisches Werk ist gezeichnet von tiefen­psychologischen Geschichten, oft Familien­dramen – beispiels­weise »Olyan Dolgok«, der ebenfalls in der Cinema Next Series zu sehen ist. Wie kommst du zu diesen Geschichten und was interessiert dich besonders daran?

Fragen der Elternschaft und der Eltern-Kind-Beziehung interessieren mich besonders. Denn das wichtigste und intensivste zwischen­menschliche Beziehungs­geflecht, das unser Leben und unseren Charakter am stärksten prägt und formt, ist die Familie. Sie ist eine der ältesten Formen des Zusammen­lebens, deren Dynamik und Probleme sich im Laufe der Zeit kaum verändert haben.

Welche Filme begeistern dich oder kommen dem am nächsten, wie du Filme machst?

Vor allem die Filme von Asghar Farhadi und Michael Haneke. Aber auch viele andere Film­schaffende wie die Dardenne-Brüder, Ruben Östlund oder die Romanian New Wave beeindrucken mich. Es mag über­raschend klingen, aber ich finde das Story­telling der Pixar-Filme sehr inspirierend.

»Das andere Ende der Straße« lässt für die Betrachter*innen letzt­endlich vieles offen: zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse oder Fragen nach Klasse und Zugehörigkeit. Was möchtest du bei den Zuschauer*innen auslösen? Ist es dir wichtig, in deinen Filmen mit Seh­gewohn­heiten zu brechen?

Die Realität ist viel zu komplex, um alle ihre Zusammen­hänge und Ebenen vollständig zu erfassen. Für die meisten globalen Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, gibt es keine einfachen und schnellen Lösungen. Eine Gesellschaft, die vereinfacht denkt und intolerant gegenüber Wider­sprüchen ist, ist gefährlich. Ich glaube, dass es die Aufgabe der Kunst ist, sich mutig auf diese Komplexität und Wider­sprüch­lichkeit einzulassen, sie mit großer Sensibilität und Ehrlichkeit zu untersuchen und zu hinterfragen.

Kannst du uns schon etwas über dein neues Projekt »The Shame of the Borebély Family« erzählen, das zum Les Arc Talent Village 2022 eingeladen wurde?

Der Film wird von Dor Film produziert und ist ebenfalls ein Familien­drama. Es wird darin eine Familie mit einer Tragödie konfrontiert. Wir haben vor zwei Jahren eine Stoff­entwicklungs­förderung vom ÖFI und vor Kurzem eine Projekt­entwicklungs­förderung vom Filmfonds Wien bekommen – was uns sehr freut, weil wir nun in den nächsten Monaten mit dem Casting und Scouting beginnen können.

Kálmán Nagy, geboren 1992 in Herend, einer kleinen Stadt in Ungarn, lebt seit 2012 in Wien. Er begann 2016 sein Studium an der Film­akademie Wien und schloss dieses 2021 in der Regie­klasse bei Michael Haneke ab. »Das andere Ende der Straße« gewann 2023 bei der Diagonale den Thomas-Pluch-Preis für das beste Drehbuch eines kurzen Kino­spielfilms und die Auszeichnung als bester Kurzfilm beim Film­festival Max Ophüls Preis. (Foto © Sebastian Kubelka)

Eine Interview-Reihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.

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