Gerade erst hat Kurdwin Ayub in Berlin für ihren ersten Langspielfilm einen Preis gewonnen, nun darf die Regisseurin mit »Sonne« die Diagonale eröffnen. Beim Gespräch in Wien erzählt Ayub, wie sie mit ihren Filmen immer wieder das Grauen der migrantischen Identitätsprobleme der zweiten Generation, kulturelle Aneignung und mediale Selbstdarstellung vor die Linse holt.
Dieser Bruch mit dem Vorhersehbaren gilt vor allem für den Vater von Hauptfigur Yesmin (Melina Benli). Er verurteilt den plötzlichen Internet-Fame der Mädchen nicht, sondern beginnt, sie für Auftritte von einer muslimischen Feier zur nächsten zu kutschieren. Die Figur wird von ihrem eigenen Vater Omar gespielt, obwohl dieser sich zunächst geweigert hatte, die Rolle zu übernehmen. »Er meinte, ich solle mir meine eigenen Geschichten und Rollen suchen. Dann habe ich aber meine Mutter gecastet und er wurde eifersüchtig«, sagt Ayub lachend.
Der Vater war es auch, der ihr zum 14. Geburtstag ihre erste Mini-DV-Kamera schenkte. »Ich musste urlange betteln.« Dass sie Filme machen wollte, wusste Ayub früh. Mit zwölf Jahren schrieb sie ihr erstes Hollywood-Drehbuch, das ihr die Freundin auf Englisch übersetzen hätte sollen. Mit der Kamera wurde der Alltag dann in seiner ganzen Vielfalt festgehalten. Was ihr abermals Probleme brachte: »Irgendwie haben sich immer Jungs vor meiner Kamera ausgezogen. Da war sie schnell wieder weg.«
Dass sie selbst keine Laufbahn als Ärztin anstrebte, missfiel dem Vater zunächst. Die progressive Vorbildfunktion fiel ihrer Mutter zu. »Mein Vater war eher der Strengere. Ich wollte das im Film daher umdrehen.« Jetzt sei er offener und cooler, sogar ein richtiger Feminist geworden. Woher der Sinneswandel? »Ich nehme an, das habe ich ihm beigebracht.«
Social-Media-Sprache
Die Getränke sind inzwischen ausgetrunken und der Alltag abseits unserer kleinen hyggeligen Ecke im Kaffeehaus macht sich stärker bemerkbar. Immer wieder klingelt Ayubs Handy, E-Mails poppen am Bildschirm auf. Online-Kommunikation – das andere große Thema der Regisseurin. In ihrem Kurzspielfilm »Boomerang« (2018) sprechen die Jugendlichen die Sprache ihrer Social-Media-Kanäle, nutzen Filter, whatsappen und fotografieren. In ihrem Kurzdokumentarfilm »LOLOLOL« (2020) begleitet Ayub die Künstlerin Anthea Schranz aus der Kameraperspektive eines iPhones. Ayub nutzt diese Bildsprache auch in »Sonne«, blendet Gruppenchats und kurze Tiktok-Videos ein: »Es ist eben die Realität, und anders könnte man keine Jugendfilme erzählen.«
Die gezeigten Clips habe sie in den Jahren seit dem Casting ihrer Laiendarsteller*innen mit diesen gemeinsam erarbeitet. Dabei sei es ihr wichtig zu betonen, dass hier nicht die persönlichen Geschichten der Darsteller*innen in den Film eingebunden werden. Viel eher gehe es ihr um reale Reaktionen. »Ich caste nicht Leute, die ganz anders sind, sondern ich caste sie, weil sie genau in diese Rolle passen. Oder: Wenn ich sie besonders mag, passe ich die Rolle im Buch an die Person an.«
Produziert wurde »Sonne« von Ulrich Seidl, ebenfalls ein ausgewiesener Experte in der Darstellung von Alltagshorror. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, so Ayub, dass sie so viel Freiraum hatte. »Hätte ich bei ›Sonne‹ einer anderen Firma vertraut, wo jemand gesagt hätte, ich muss es mehr Genre, mehr auf Publikum machen, dann wäre ich böse auf mich gewesen. Und besser man scheitert mit seiner eigenen Vision als mit der Vision von jemand anderem.«
Mit dem Erfolg in Berlin und als Eröffnungsfilm bei der Diagonale ist Ayub nun am nationalen und internationalen Radar angekommen. Das birgt aber auch so manche Tücke: »Ich verspüre jetzt Druck, damit der Film nicht als glücklicher Ausrutscher betitelt wird.« Die Erwartung an den zweiten Spielfilm ist hoch: »Deswegen mache ich gleich weiter.« Aufregung liegt in ihrer Stimme. »Wir reichen gerade für die Herstellung ein, ich caste und wir haben schon Locations.«
»Sonne«, »Mond« und »Sterne«
Der Name des Nachfolgers: »Mond«. Danach soll auch noch »Sterne« kommen. Yesmins Geschichte sei mit »Sonne« zwar vorbei, aber die Filme würden schon zusammenhängen: »Es geht immer um die Beziehung zwischen Okzident und Orient.« Die Himmelskörper sind dabei nicht nur astrologisch-geografischer Symbolismus. »Sonne, Mond und Sterne schauen alle auf uns runter. Vor ihnen sind wir alle gleich.« Wird sie von der heimischen Filmbranche denn auch als gleich gesehen? »Da ist schon ein Stempel da.« Es wäre ihr lieber, nicht in einer Zeit zu leben, wo sie zuerst als »weiblich« und als »Migrantin« gesehen werde. »Aber es ist halt so. Und vielleicht braucht es das noch, damit irgendwie andere Leute ermutigt werden.« Es störe sie auch nicht, stellvertretend als Repräsentantin ihrer Community herhalten zu müssen: »Das mag ich ganz gern.«
Hätte sie eine solche Stimme als Vorbild auch anders gefunden? Ayub überlegt. Ihr Blick wandert. »Das weiß ich nicht. Ob ich mich in anderer Form ausdrücken würde, wenn ich nicht Filme machen würde? Schwierige Frage.« Vielleicht auch eher eine hypothetische. Denn zu sagen hat Ayub immer was. Und irgendwo da draußen, so hoffe sie, würden Mädchen oder Frauen wie Ayub selbst den Film sehen und sagen: »Ja, genau so war das. Endlich mal etwas, das zeigt, was echt ist.«
»Sonne« eröffnet am 5. April die diesjährige Diagonale in Graz. Am selben Tag finden Preview-Screenings in Wien (Stadtkino), St. Pölten (Cinema Paradiso), Innsbruck (Leokino), Linz (Moviemento) und Klagenfurt (Volkskino) statt. Der reguläre Kinostart ist für den 9. September anberaumt. Im Rahmen der Feierlichkeiten zu »Ein Vierteljahrhundert The Gap« ist Kurdwin Ayubs Kurzfilm »LOLOLOL« in Kooperation mit der Diagonale am 20. April 2022 im Metro Kinokulturhaus in Wien zu sehen. Einen Überblick über unsere Beiträge zur Diagonale findet ihr hier.