»Eine Erinnerung an einen Ort« – Lidija-Rukiye Kumpas im Interview zu »Gül«

In »Gül« erzählt Regisseurin Lidija-Rukiye Kumpas die Geschichte einer Gastarbeiterin, inspiriert von ihrer eigenen Familien­geschichte – an dem Ort, an dem sie als Kind ihre Sommer verbracht hat. Der persönliche Kurzfilm feierte 2024 auf dem Film­festival Max Ophüls Preis Premiere. Bei Vienna Shorts gewann die Regisseurin damit den Preis der Jury als »Beste Newcomerin«. Nun ist der Film in der Cinema Next Series kostenfrei zu streamen. Im Interview erzählt uns die Filme­macherin von ihrem »Liebesbrief an diesen Ort und die Menschen, die ihn beleben«.

© Lidija-Rukiye Kumpas — Gastarbeiterin Gül und Filiz, die Jüngste der Familie, gespielt von der kleinen Schwester der Regisseurin

»Gül« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.

In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Gül«?

Lidija-Rukiye Kumpas: Im Mittelpunkt des Films steht Gül. Gül habe ich als die Pflegerin meiner Großmutter kennengelernt. Sie ist als Gastarbeiterin aus Usbekistan in die Türkei gekommen und hat mit meiner Familie gelebt. Mir gefiel die Vorstellung, sie zur zentralen Figur einer Erzählung zu machen. Wir entwickelten eine Geschichte, in der sie wegen eines falsch gebuchten Flugtickets entscheiden muss, ob sie die Türkei früher als geplant verlässt, um nach Deutschland auszuwandern. Es geht vor allem um ein Gefühl von familiärer Gemeinschaft, das Zusammenkommen von Leuten und das Leben zwischen verschiedenen Sprachen, Familien und Orten, die ein Zuhause sein können oder sind.

Der Film beginnt mit idyllischen Aufnahmen eines Ortes am Meer in der Türkei. Du schaffst es, eine ganz besondere Atmosphäre zu erzeugen. Hast du einen persönlichen Bezug zu diesem Ort?

Ja, es ist der Ort, an dem mein Vater aufgewachsen ist und an dem ein Großteil meiner Familie lebt. Ich habe dort als Kind meine Sommer verbracht. Es ist eine Art Zuhause, ein Ort, an dem ich mich wohlfühle und willkommen bin – gleichzeitig bin ich nie ganz von dort und ich bin dort auch immer ein wenig fremd. Ein bisschen wie die Figur Gül, deren Freund*innen und Familie woanders sind und die gleichzeitig in diesem Dorf Wurzeln schlägt und sich zu Hause fühlt.

Dein Film wirkt allgemein sehr persönlich – und wenn man sich die Namen der Darsteller*innen ansieht, macht das auch Sinn. Wie war es, einen Film mit der eigenen Familie zu drehen?

Weil ich den Ort und die Menschen vor der Kamera gut kenne, habe ich mich sicherer gefühlt bei der Arbeit. Das hat gegen die Angst geholfen, etwas falsch zu machen. Natürlich gab es auch Dramen, es waren sehr heiße, lange Tage und wir waren fast zwei Wochen immer alle auf einem Haufen. Mit meiner kleinen Schwester habe ich manchmal gestritten. Wir sind uns aber auch nähergekommen. Sie war nicht nur Schauspielerin, sondern auch Fahrerin und Dolmetscherin. Noch dazu ist sie immer noch die jüngste Schwester, der gerne angeschafft wird, Dinge zu machen.

Alles in allem habe ich mich sehr unterstützt gefühlt, nicht nur von meiner Familie, sondern auch von meinen engsten Freund*innen, die mitgearbeitet haben. Wenn ich mir den Film anschaue, freue ich mich immer wieder – einerseits weil ich diesen tollen Menschen so gerne zuschaue und weil es sich für mich wie eine besondere Art des Fotoalbums, eine Erinnerung an einen Ort anfühlt.

Hatte jemand von den Darsteller*innen bereits Schauspielerfahrung? Was war euer Prozess?

Meine Schwester hatte in der Schule Theater gespielt, aber das ist schon länger her. Ansonsten hatte niemand Schauspielerfahrung. Die Kamerafrau Stella und ich sind vor dem Dreh in das Dorf gefahren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es den Menschen vor der Kamera geht und um etwas »herumzuspielen«. Während des Drehs hatten wir einen Plan, wir passten diesen aber im Drehprozess an. Mit den Darsteller*innen war es ein Trial-and-Error-Prozess: Gehen sich die Szenen aus wie geplant? Wenn nicht, hatten wir alternative Settings oder Handlungen, die dasselbe erzählen konnten. Wir haben die Szenen immer durchgesprochen – also was jeder macht und was passieren muss – und dann improvisiert, geschaut, was tatsächlich passiert, und wiederholt, bis etwas dabei war oder die Luft draußen. Manchmal waren aber auch alle nur verwirrt.

Die authentischen Laiendarstellerinnen Filiz Kumpas …
… und Gulllola Kutlieva in der türkischen Sommerhitze. Filmstills aus »Gül« © Lidija-Rukiye Kumpas

Was hat dich dazu inspiriert, diese Geschichte zu erzählen?

Gül war, wie es der Titel verrät, der Ausgangspunkt, ich finde sie ist so eine tolle und bemerkenswerte Person. Genauso wie alle im Film. Seit ich mich erinnern kann, bin ich jeden Sommer mit meinen Schwestern den türkischen Teil meiner Familie besuchen gefahren. Die Grundidee des Films war es, die Atmosphäre aus dem Alltag meiner Familie in diesem Dorf einzufangen und mich mit Fragen nach Familienstrukturen, Zuhause und Zugehörigkeit zu beschäftigen. Der Film ist ein Liebesbrief an diesen Ort und die Menschen, die ihn beleben. Sie haben Platz für einen, egal ob man Vollzeit, Teilzeit oder zu Besuch dort ist. Gedreht mit Menschen, die mir sehr nahe sind, mich verwirren, prägen und faszinieren.

Gibt es eine spannende Anekdote vom Filmdreh?

Man hätte eine Doku machen sollen über den Dreh. Ich hatte die tolle Idee, nicht »Bitte« und »Danke« am Anfang und am Ende eines Takes zu sagen, wie das üblich ist bei einem Dreh. Ich wollte, dass wir fühlen, wann eine Szene beginnt und endet. Im »Flow« bleiben oder so. In kürzester Zeit wusste niemand mehr, was zu tun ist. Leute sind losgegangen, wenn sie hätten stehen sollen. Der Ton war im Bild. Die Kamera wusste nicht, wem sie folgen soll. Naja, die Idee habe ich schnell gekübelt – ein Dank an meine Kamerafrau! Zu meiner Verteidigung: Ich wollte Dinge ausprobieren.

Gül, unsere Hauptdarstellerin, musste spontan länger arbeiten und konnte erst ab der Mitte des Drehs zu uns stoßen. Deswegen mussten auch wir mit der Geschichte und dem Drehplan improvisieren. Kurz gesagt: Meine Schwester musste herhalten für viele Szenen, die nie in den Film gekommen sind. Ein Dank an meine Schwester!

Und während der Dreharbeiten gab es einen Waldbrand, der fast unsere Siedlung niedergebrannt hätte. Das war sehr gruselig. Zum Glück ist nichts passiert. Ein Dank an die vielen Leute mit Gartenschläuchen und die Feuerwehr!

Am Ende des Films wird auch klar: Neuanfänge machen oft Angst. »Gül« hat vor einem Jahr auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis Premiere gefeiert und du hast den Preis der Jury für »Beste Newcomerin« bei Vienna Shorts gewonnen. Gibt es schon ein neues Projekt, auf das wir uns freuen können?

Mein nächstes Projekt passt auch gut zu Neuanfängen, die Angst machen. Die Geschichte handelt von einer jungen ukrainischen Dolmetscherin, die sich von ihrem Mann trennt. Im Zentrum steht die Beziehung zu ihrer Tochter und ihren Freundinnen in ihrer neuen Heimat Österreich. Außerdem habe ich meiner Mutter versprochen, dass wir einen gemeinsamen Film machen. Wenn ich meine Schwester ganz lieb frage, macht sie hoffentlich auch mit. Ich bin schon sehr gespannt – das wird aber noch etwas dauern.

Derweil freue ich mich schon sehr auf die Kurzfilme, an denen ich als Produzentin mitgearbeitet habe: »Liens Familiers« (Regie: Cordula Rieger), »Stillstand einer Welle« (Regie: Martin Weiss) und »Roya« (Regie: Fabian Rausch). Dann gibt es noch »A Wants Out« von Zorah Berghammer, bei dem ich die Kamera gemacht habe. Ganz tolle Filme von wunderbaren Menschen, deren Zusammenarbeit ich sehr schätze und von und mit denen ich viel lernen darf.

Lidija-Rukiye Kumpas, aufgewachsen in Graz, studiert seit 2019 Produktion an der Filmakademie Wien und vertiefte sich im Kameramodul bei Wolfgang Thaler. Neben ihrem Studium arbeitet sie als Tonassistentin auf Spielfilmsets und widmet sich der Produktion, Bildgestaltung und Regie von Kurzfilmprojekten. Mit »Gül« gewann sie den Preis der Jury als »Beste Newcomerin« beim Festival Vienna Shorts. Überdies wurde der Film als »Lieblingsfilm der Jury« bei der Cinema Next Tour 2024 ausgezeichnet.

Eine Interviewreihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.

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