Marseille war Kulturhauptstadt. Wie schon Linz und Graz. Was davon bleibt? Wir haben bei Pia Leydolt, die Führungen durch die europäischen Kulturhaupstädte anbietet, nachgefragt.
Marseille ist keine Stadt der Kultur. Wer Geld hat, wohnt in Aix-En-Provence, 20 Minuten landeinwärts. In Marseille gibt es keine Universitäten, keine grösseren Festivals, das Stadtzentrum ist verwahrlost, die ehemalige Prachtstrasse Canebière ebenfalls, die Wohnungen dort maximal Substandard, die wenigen U-Bahnen fahren nur bis neun, weil es später zu gefährlich ist, man klammert sich an Fußball, der gesamte Norden der Stadt ist mit schlecht funktionierenden Sozialbauten verunstaltet, die Kriminalität hoch. Die ehemaligen Kolonien in Nordarfrika liefern viel weniger Waren, die früher hier ankamen. Marseille hat die Deindustrialisierung hart getroffen. Oder auch nicht.
Marseille war so. Der TGV bindet die Metropole am Mittelmeer mittlerweile an Paris und Lyon an, Zweitwohnungen boomen, das Zentrum und das Hafenareal wurden neu gestaltet, die aufgelassenen Straßenbahnen wurden neu gebaut und letztes Jahr dann schliesslich Marseille zur europäischen Kulturhauptstadt gekrönt, weshalb die Stadt einen aufwendigen Museumsbau an die Spitze des alten Hafens stellte. Natürlich ändern sie Städte nicht von Grund auf in nur zehn Jahren. Was aber so ein Prestigeprojekt für eine gesamte Stadt bedeuten kann, darüber haben wir uns mit Pia Leydolt unterhalten. Sie hat gemeinsam mit Carina Kurta die Agentur Capcult gegründet, mit der sie individuelle Führungen durch die Kulturhauptstädte Europas anbieten.
Und zu den österreichischen Kulturhauptstädten Graz und Linz hat sie auch eine Meinung.
Um mal sonnig zu starten: Was war an Marseille-Provence 2013 am gelungensten?
Wie schnell sich die Bevölkerung auf das Angebot der Kulturhauptstadt eingelassen hat! In kaum einer anderen Kulturhauptstadt haben sich die Einheimischen und die Bewohner der Region so schnell das Projekt angeeignet, wie es hier der Fall war. Der Stimmungswandel war schon bei den ersten Projekten im Jänner und Februar zu spüren – im Gegensatz zu den bekannten langwierigen, kritikbehafteten und ungeduldigen Anlaufzeiten in anderen Städten – bis der Tourismus einsetzt.
Wie wurde das neue, 190 Millionen Euro teure Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers aufgenommen?
Das MuCEM (Musée des Civilisations de l’Europe et de la Médieterranée) ist eine der größten kulturpolitischen Investionen der Republik Frankreich in den vergangenen Jahren. Es ist das erste Nationalmuseum außerhalb von Paris und ein Prestigeprojekt der Regierung.
Mit dem MuCEM, bestehend aus dem Museumsbau „J4“ und der Festung Fort St. Jean direkt am Mittelmeer sowie dem Schaudepot im Stadtinneren, ist nicht nur ein ethnologisches Museum in Marseille entstanden, sondern auch ein öffentlicher Raum, den die Marseiller – ebenso die Touristen – mit großer Begeisterung angenommen haben. Die Festung Fort St. Jean war seit dem 15. Jahrhundert der Öffentlichkeit stets verschlossen – bis Juni 2013. Seitdem verbindet eine Brücke den ältesten Stadtteil „Le Panier“ mit der Festung und eine weitere Brücke diese mit dem neuen, gläsernen, im Mittelmeer stehenden Museumsbau „J4“ des Architekten Rudy Ricciotti. Architektonisch könnte man sagen, das Mucem ist das Guggenheim von Marseille.
Im Rahmen der Museumsöffnungszeiten ist das gesamte Areal kostenlos zugänglich, lädt zudem zum Verweilen und picknicken ein und bietet eine Vielzahl an großartigen Veranstaltungen wie „Kino unter Sternen“, Konzerte, Lesungen u.v.m.
Die Zahlen sprechen für sich: In nur 8 Monaten wurden 2 Millionen Besucher verzeichnet; davon waren 40% zahlende Ausstellungs- und Museumsbesucher.
In Marseille war das Zentrum vor zehn Jahren noch klassisch heruntergekommen, das Bahnhofsviertel auch, die Hafengegend eine industrielle Brache. Wie geht man hier mit der Problematik der Gentrifizierung um?
In Marseille existiert seit 1989 das größte europäische Städtebauprojekt „Euroméditerranée“, das sich vorrangig auf die Stadtteile La Belle de Mai, das Bahnhofsviertel Saint Charles, La Joliette, Arenc und die Rue de la Republique konzentriert. In Marseille ist die Situation ähnlich wie in allen anderen Hafen- und Großstädten: die Folge von großangelegten städtebaulichen Maßnahmen in oftmals vernachlässigten Wohnviertel mit meist einkommensschwacher, häufig zugewanderter Bevölkerung aus ehemaligen Kolonialgebieten im Mittelmeerraum und dem damit verbundenen Problem der Gentrifizierung sind auch hier nicht von der Hand zu weisen.
Selbstverständlich gibt es Kritik an diesem Projekt, wenn auch einerseits die Stadt um Lösungen bemüht ist, andererseits es eine starke Bürgervereinigung („Un Centre Ville pour Tous“) gibt, die sich für die benachteiligen Schichten einsetzt und gegen Gentrifizierung ankämpft. Wie sich das Projekt weiterentwickelt und das Problem der Gentrifizierung weiterhin behandelt wird, kann ich aus heutiger Sicht nicht beurteilen, zumal das Projekt „Euromédietrranée“ bis ins Jahr 2030 angelegt ist.
Eines kann ich aber sagen: Die Friche La Belle de Mai, eine ehemalige Tabakfabrik und heute Kulturzentrum mit über 70 Künstlerateliers ist eine der größten Gewinner der Kulturhauptstadt: hohe Investitionen wurden getätigt, neue Ausstellungsräumlichkeiten, zwei neue Theatersäle, ein zusätzlicher Ausstellungsraum Tour Panorama sind entstanden und die Dachterrasse wurde zu Veranstaltungszwecken ausgebaut. In dem Arbeiterviertel „La Belle de Mai“ hinter dem Bahnhof gelegen, hatte sie sich zwar schon vor dem Kulturhauptstadtjahr etabliert, doch wurde im Rahmen dessen mit 500.000 Besuchern ein absoluter Rekord seit Bestehen aufgestellt.