Marseille war Kulturhauptstadt. Wie schon Linz und Graz. Was davon bleibt? Wir haben bei Pia Leydolt, die Führungen durch die europäischen Kulturhaupstädte anbietet, nachgefragt.
"Die Zeit" hat Marseille 2013 als ziemlich desolat und hässlich beschrieben. Hat sich also nichts geändert?
Ich kenne den Artikel und kann nur sagen: Wenn man desolate und hässliche Ecken sucht, findet man diese selbstverständlich auch in Marseille.
In den vergangenen Jahren hat sich hier sehr viel geändert: die Stadt ist definitiv sauberer geworden – auch sicherer; tolle öffentliche Plätze sind neu gestaltet worden oder entstanden wie beispielsweise der Vieux Port (Alter Hafen), über den noch bis vor zwei Jahren eine 9-spurige Strasse ging und heute eine attraktive Flaniermeile existiert (der Straßenverkehr wird seit vergangenem Jahr unterirdisch geleitet), der Place Bargemon, der für viele Veranstaltungen genutzt wird, die neue Kunstmeile entlang des Fährenhafens vom Alten Hafen bis nach La Joliette, der Bahnhof, der umgebaut oder die öffentlichen Verkehrsmittel, in die investiert wurde.
Marseille ist keine klassische Kulturstadt. Ist denn die Finanzierung der neuen Kulturtempel langfristig gesichert?
Kulturfinanzierungen als langfristig zu bezeichnen, ist so eine Sache. Für die nächsten Jahre ist aber eine Finanzierung durch den Staat, die Region, das Departement und die Stadt für bestehende und neue Kulturinstitutionen gesichert. Das Kulturbudget der Stadt Marseille wurde für das Kulturhauptstadtjahr 2013 erhöht und bleibt zumindest 2014 auf demselben Niveau. Das staatliche Kulturbudget ist hingegen um 2,2% gesunken, was aber keine Auswirkung auf Marseille hat, da Marseille aufgrund seines Nachholbedarfs von den Kürzungen bewusst ausgenommen wurde.
War Korruption ein Problem?
Soweit ich das beurteilen kann nicht; auch von Seiten der Kulturhauptstadt-Macher sind mir keine Probleme aufgrund Korruption bekannt.
Was hat Barcelona besser als Marseille gemacht, um international als coole Mittelmeerstadt zu gelten, in die junge Menschen gern ziehen?
Marseille ist heute da, wo Barcelona vor ungefähr 15 Jahren war. Das hat unterschiedliche Gründe – politische, finanzielle, wirtschaftliche und auch kulturelle.
Es ist auch nicht so, dass sich dieser Effekt in Barcelona zeitgleich mit den Olympischen Spielen 1992 eingestellt hätte. Solche Entwicklungen und Veränderungsprozesse brauchen ihre Zeit. Dazu gehört auch der Imagewandel, den Marseille seit den Vorbereitungen auf das Kulturhauptstadtjahr durchläuft. Diesbezüglich ist auch meiner Erfahrung nach die Einstellung derer, die im letzten Jahr in Marseille waren, eine von Grund auf andere, als derer, die noch nie oder vor 20 Jahren zum letzten Mal hier waren. Gut Ding braucht Weile!
Ihr macht dasselbe Kulturvermittlungsprogramm heuer in Riga2014. Was sind eindeutige Unterschiede zu Marseille-Provence 2013?
Kulturhauptstädte im Detail miteinander zu vergleichen, ist nicht seriös. Die jeweiligen Ausgangspunkte sind dermaßen unterschiedlich – nicht zuletzt aufgrund der Diversität der kulturellen Eigenheiten in Europa. Das ist aber auch genau das, was das Projekt „Europäische Kulturhauptstadt“ seit fast 30 Jahren so spannend macht.
Es gibt aber Unterschiede, die auf der Hand liegen, wie beispielsweise dass „nur die Stadt“ Riga heuer Kulturhauptstadt ist, wohingegen Marseille samt Teile der Provence Kulturhauptstadt 2013 waren. Ein weiterer Unterschied ist das Budget: 24 Millionen Euro hat Riga für sein Kulturhauptstadt-Programm zur Verfügung (ca. 1 Mio. Einwohner), in Marseille-Provence (ca. 1,9 Mio. Einwohner) waren es im vergangenen Jahr 91 Millionen Euro.
Inhaltlich gibt es im Programm von Riga mehr Projekte, die sich mit der Volkskultur auseinandersetzen. Das liegt unter anderem daran, dass das lettisch-russische Zusammenleben sich komplizierter darstellt als der Nationalitäten-Mix in Marseille. Das ist auch die große Herausforderung von Riga 2014, die mit gezielten Projekten auf die Einbindung der russischen Minderheit aufmerksam machen möchte – für kritische Stimmen allerdings scheint dies immer noch nicht genug …
Könnt ihr das auch in eine Relation mit Linz09 und Graz 2003 setzen?
Hier gilt fast dasselbe wie im Vergleich von Marseille-Provence 2013 mit Riga 2014: Sowohl bei Linz09 als auch bei Graz 2003 standen ausschließlich die Städte im Fokus des Kulturhauptstadt-Projektes. Anders verhält es sich allerdings in Hinblick auf die enormen Budgets, die beide Städte zur Verfügung hatten: Linz mit über 70 Millionen Euro (195.000 Einwohner) und Graz mit ca. 60 Millionen Euro (265.000 Einwohner).
Ein programmatischer Unterschied ist, dass Marseille überwiegend mit lokalen Kulturinstitutionen kooperiert hat und nur einige wenige Projekte in Eigenproduktionen entwickelt hat. So hat Marseille-Provence 2013 sein Programm überwiegend so angelegt, bestehende sowie neue Kulturinfrastrukturen darin zu unterstützen, ihre Häuser inhaltlich interessant und qualitativ hochwertig zu bespielen.
Sofern das messbar ist, wie erfolgreich war Marseille-Provence 2013 im Vergleich mit anderen Kulturhauptstädten?
Kulturhauptstädte miteinander zu vergleichen, wäre nicht die korrekte Weise, den Erfolg dieser zu bemessen, zumal sie nicht in Konkurrenz zu einander stehen.
Dennoch kann jede Stadt für sich selbstverständlich Erfolge verzeichnen: Marseille-Provence 2013 ist die Kulturhauptstadt, in der (notwendigerweise) am meisten in neue Kulturinfrastruktur investiert wurde und somit gute Voraussetzungen hat, nachhaltig zu wirken.
Ein weiterer Erfolg war, die Akzeptanz des Projektes bei der Bevölkerung, einem Publikum, das bisher nicht gewohnt war, Kunst und Kultur in dieser Weise zu konsumieren, und sich gegen alle Skepsis von Anfang an voll darauf eingelassen hat.
Aber natürlich gibt es auch Zahlen, die den Erfolg des vergangenen Kulturhauptstadtjahres in Marseille-Provence untermauern: ein Nächtigungsplus von 20% in Marseille, 2 Millionen mehr Touristen in der Region, 11 Millionen Besucher von Kulturhauptstadt-Projekten und 5,1 Millionen Ausstellungs- und Museumsbesucher (das sind mehr als 3 Millionen mehr als in den Jahren zuvor).
Jetzt gilt es aber, vorwiegend für Politik und Kulturmacher, am Ball zu bleiben! Und für alle anderen, Marseille eine Chance zu geben.
Pia Leydot hat gemeinsam mit Carina Kurta die Agentur Capcult gegründet, mit der sie individuelle Führungen durch die Kulturhauptstädte Europas anbieten. Marseille war 2013 Kulturhauptstadt, 2014 ist Capcult in Riga. Infos zu Marseille 2013 und Riga 2014 finden sich hier: