Während Italien in den Achtzigern aufblühte, blühte auch der Musik-Untergrund. Der Untergrund: Beton. Die Blüten: aus Industrieschrott. Eine Compilation verschafft Überblick.
Italienischer Film? Sicher, ist bekannt. Italienische Popmusik? Außer Schlager und Italo Disco? Nun, keine Sorge, selbst in Italien kennt man den wavigen Untergrund kaum, der dort nach dem Ende der bleiernen Jahre, den Siebzigern mit seinen Hunderten politischen Leichen, entstanden ist. Die meisten der 26 Songs dieser Compilation kamen damals auf Kassette heraus (an den Faltlinien in den Bilder links bzw. ihrem Format zu erkennen), oder nur in sehr geringer Auflage, Alessio Natalizia von der Band Walls hat sie über Jahre gesammelt, angeblich bis seine Sammlung auf über 700 Stücke angewachsen waren. Ausgewählt und angeordnet wurden sie dann mit merkbar musikalischem Ohr und einer Liebe zum Obskuren. Die Aufnahmebedingungen dürften offenbar nicht die besten gewesen sein. Nichts passt, die Mischung, die Komprimierung, die Filterungen. Studios waren teuer, Vinyl war teuer, gutes Equipment war teuer. Aber genau aus diesem billigen Schrott sollte Musik heraus gedrescht werden. Oder etwas, das so ähnlich klingt.
Boom
Es ist wahrscheinlich etwas zu einfach direkte Verbindungen zu italienischem Futurismus und Horror-Soundtracks ziehen zu wollen. Viele der Bands fühlten sich deutlich hörbar von Cabaret Voltaire, Throbbing Gristle und Kraftwerk beeinflusst. Industrielle Sounds, metallische Geräusche, Abscheulichkeiten und rohe Elektronik dominieren die Tracks. Die meisten Bands hatten offenbar eine Drum Machine daheim, eine elektrische Orgel von Oma, waren von der Arpeggio-Taste begeistert und konnten ein bisschen Krach aus ihren 3Volt-Gitarren-Verstärkern kitzeln. Die Auswahl ist wohl trotzdem zu eng begrenzt, um die Themen der Bands mit dem Buch „Wienpop“ abzugleichen, genauer gesagt mit den Schilderungen der Protagonisten in Gerhard Stögers Kapitel über die Achtziger. „Wien, du tote Stadt“ brüllte vom Rücken einer Lederjacken ins Gesicht der Wien. Für Italien begannen die Achtziger dagegen dem Gewinn der Fußball-WM 1982 und einem wirtschaftlichen Boom, zehn Jahre später stand man als viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt da, gleich nach den USA, Japan und Deutschland. Das hat freilich einige Bands nicht davon abgehalten, Musik zu machen, als wären vor der Haustür wilder Raubtierkapitalismus und neoliberale Wechselkurspolitik ausgebrochen (was sie aus heutiger Sicht ja auch tatsächlich waren), als würde man vor den Ruinen der industriellen Revolution stehen.
Gestatten
Heraus sticht dabei auch der Track einer Band mit dem flockigen Namen 0010110000010011 (Cancer), mit ihrem an Suicide erinnernden psychedelischen Groove. Doris Norton bekam ihre Aufnahmen 1984 von Apple gefördert. Kirlian Camera war eine der wenigen Bands mit Major-Plattendeal. Victrola konnten außer intensive Beats wie aus New Orders zentraler Schaltstelle auch offenbar noch mit Harmonien umgehen. La Maison samplen zu einer hübschen Kraftwerk-Melodie eine Rede von Adolf Hitler, die er kurz vor der Annexion Tschechiens gehalten hat. So richtig zwingend ist „Mutazione“ trotzdem nur für Historiker und zum Angeben beim Auflegen. Mitsamt seinem Booklet, das mit Texten, Fotos und originalen Artworks angefüllt ist, schaffen diese zwei randvollen CDs dabei etwas, das für Wienpop noch aussteht: die Musik wird endlich wieder hörbar – und wohl auch auf Youtube landen. Dafür kann man Strut Records eigentlich nicht genug danken. Mr. Strut, wir dürfen vorstellen, Gerhard Stöger. Gerhard Stöger – Strut Records.
"Mutazione: Italian Electronic & New Wave Underground 1980-1988" erscheint am 5. August 2013 via Strut Records.
Anmerkung: Gerhard Stöger besitzt zwar die vollständige Diskografie seines 80er-Jahre-Kapitels in Wienpop, für 80er Jahre Tapes verweist er der Vollständigkeit halber auf Alexander Magrutsch und sein Label Luziprak Records.