Die Zivilisation schreitet voran: Fleischessen wird für unsereiner langsam, aber sicher tabu. Making-of einer neuen Moralvorstellung.
Ich bin kein Soziologe, doch der Wandel ist offensichtlich. Und ich behaupte: Er ist unaufhaltsam. Schnitzel, Gulasch und Grammelknödel haben als identitätsstiftende Speisen bald ausgedient. Und es ist nicht Kebab, das an ihrer statt die kulinarische Linie vorgibt, sondern Tofu. Je jünger, je gebildeter, je städtischer, je meinungsbildender die Menschen, desto dezidierter sind sie Anti-Fleisch. Damit liegen sie im Trend eines seit Jahren sinkenden Fleischverzehrs in den Industrienationen, weltweit allerdings können die Tierfabrikanten mit einem Anstieg des Fleischkonsums bis 2020 um bis zu ein Drittel rechnen. Doch ob sie Fleisch nun aus Gründen des Tierschutzes, der eigenen Gesundheit oder, globaler gedacht, der Ressourcenknappheit halber sein lassen: Sie setzen den neuen kulturellen Maßstab. Denn Vegetarier oder Teilzeit-Vegetarier sind nicht mehr die Kostverächter, als die sie galten, sondern sie inszenieren sich selbstbewusst als die wahren Genießer. Diesem Bild gegenüber steht der Old-School-Typus eines Otto Schenk („Ich esse gerne fett und deftig“). Ich bin es mir wert versus Mir doch wurscht. Das färbt ab.
Der Fleischgenuss gehöre bald zu den wenigen Privilegien der schlecht verdienenden, ungebildeten, männlichen Jugend. Das meinte sinngemäß eine Wiener Ernährungsberaterin in einem Gespräch mit der Fibel, dem Zentralorgan des Forschungsinstituts für biologischen Landbau. Das mag zwar immer noch die Mehrheit ausmachen, doch die Tendenz ist eindeutig: Schon jetzt werden in Deutschland 70 Prozent des verkauften Schweinefleischs in Sonderangeboten abgesetzt. Es kursieren keine Vergleichszahlen, aber das Verhältnis dürfte in Österreich ähnlich sein. Hier werden pro Kopf jährlich knapp 70 Kilo Fleisch gegessen, 40 davon stammen vom Schwein. Billiges Schweinefleisch zum Kampfpreis kauft allerdings nur, wer nicht darüber nachdenkt, was er isst. Denn auch wer billig essen muss, kann gesund und bewusst kaufen.
Letztlich ist es wie mit Autos, die nur noch der Vätergeneration oder unter Halbstarken zum Statussymbol taugen. Die Ausnahme bildet da wie dort der Genießer, der seine Leidenschaft zur Erhabenheit erklärt, zum Kult erhebt. Von Zeit zu Zeit den Oldtimer auszufahren ist dann im Grunde dasselbe wie hin und wieder voll Hingabe die Hartwurst vom Freilandschwein aufzuschneiden: 100% Bobo.
Weil der Bruch des Tabus aber, wie immer, seinen Reiz haben wird, könnte zwanghaften Fleischfressern künftig nur die Flucht in den Prolo-Chic bleiben. Dann können sie sich mit dem koketten Grinsen des Tabu-Brechers von Wurstthekenfingern den Leberkäs servieren lassen. Falls ihnen dann nicht selbst davor graust.
Thomas Weber,
weber@thegap.at
Herausgeber & mündiger Fleischfresser