Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.
Dreimalumalpha – »Ich schwöre mir läuft die Zeit davon«
Wenn Musikjournalist*innen einmal Grund zum Jubeln haben sollten, dann höchstens bei der Weltmeisterschaft im Es-Sich-Ziemlich-Leicht-Machen. Als Ende 2020 »Jugend ans Geld verloren«, das sehr gute Debüt der Innsbrucker Gruppe Dreimalumalpha erscheint, heißt es gleich überall: Hamburger Schule, Tocotronic und all das. Das kennen die Leute ja. Und ja, auch das Zweitwerk »Ich schwöre mir läuft die Zeit davon«, das in nur sieben Liedern dieses Mal bei Problembär Records erscheint, lässt natürlich da gewisse Assoziationen wecken. Einerseits ist da musikalisch eben dieser wunderbare, gar zeitlose und größtenteils sehr sanfte klassische Indie-Rock, der so schön mäandert wie ein eiskalter Bach im Tiroler Oberland, der gleich einmal potenzielle Ecken und Kanten beständig abschleift. Aber nicht unbedingt im Sinne einer Beliebigkeit, eher im Sinne einer größtmöglichen Hörbarkeit. Andererseits die Texte: Resignativ und gleichzeitig fordernd, verschachtelt und poetisch, aber durchaus auch an manchen Stellen mit klaren Handlungsempfehlungen. Kurz: Dreimalumalpha bleiben Dreimalumalpha, ein klassisches gutes zweites Album.
»Ich schwöre mir läuft die Zeit davon« von Dreimalumalpha erscheint am 7. Oktober via Problembär Records. Live-Termine: 7. Oktober, Rhiz Wien; 8. Oktober, Bäckerei Innsbruck. Hier kaufen.
Die Nerven – » Die Nerven«
Es gibt solche und solche. Alben, auf die man sich freut. Und Alben, auf die man hinfiebert wie auf den letzten Schultag vor den Sommerferien. Und genauso wie zwischen jenen Tagen ist auch der Abstand zwischen zwei Alben der Gruppe Die Nerven in der Regel viel zu lange. Die superlativste Band Deutschlands, die schon längst über jegliche Genre-Grenzen ihren Status als spannendste Kombo untermauerte, hat zuletzt 2018 mit dem famosen »Fake« angeschrieben, und – was soll man sagen? Das neue, selbstbetitelte, gar »schwarze« Album, ist noch eine Schippe besser. Vielleicht mit Sicherheit das beste ihrer Karriere bislang. Und das, obwohl es vermutlich das »poppigste« ist, das zugänglichste, ziemlich sicher aber jenes mit der dechiffriertesten Sprache, mit Klarheit in der Message. Etwa, wenn es um die Fragen dieser Generation geht, Ängste, Dekadenz und so weiter (»Ein Influencer weint sich in den Schlaf« oder »Ganz egal«). Vor allem aber die politischsten Stücke, wie etwa das im Studio von Jan Böhmermann präsentierte »Europa« – Hit-Alarm! Oder das fatalistische »Ich sterbe jeden Tag in Deutschland« lassen wenig Fragen übrig. Genauso natürlich wie die Musik, die von fast schon akustischen Gitarren bis zu typischen kakophonen Crescendi, wenn es dann doch mal auf die Zwölf geht, reicht. Kurzfassung: Kaufempfehlung, Stufe 10. Von 9 möglichen.
»Die Nerven« von Die Nerven erscheint am 7. Oktober via Glitterhouse. Live-Termin: 23. November Grelle Forelle Wien. Hier kaufen.
The Düsseldorf Düsterboys – »Duo Duo«
Einer der Kunst am meisten am Herzen liegenden Aufträge ist wohl das Polarisieren. Wichtig ist eben im Endeffekt nur, dass du niemandem egal bist. Und auch wenn das zweite Album des Duos The Düsseldorf Düsterboys »Duo Duo« – verstehst, das doppelte Duo?! – zu Beziehungskrisen, Streitfällen im Feuilleton oder das Bilden konkurrierender philosophischer Schulen führt, egal sollte – zumindest sollte! – diese Langspielplatte niemandem sein. Zu sehr spaltet sie Menschen wie sonst nur die letzten paar Nummern im Tanzcafé. So werden manche schließlich beim sehr sanft und langsam vorgetragenen Bossa-Nova-Pop verschmust eng tanzen, andere vor Langeweile oder angesichts drohender Selbstzerstörung lieber ein Schläfchen halten und hoffen, erst nach den 40 Minuten Laufzeit aufzuwachen. Selbst wenn du nach Erstbeschallung von »Duo Duo« zu letzteren gehörst, eines, und vielleicht noch viel mehr, musst du Peter Rubel und Pedro Goncalves Crescenti – ja, International Music, wir wissen’s – lassen: Niemand schafft es so gut, die so offensichtliche Melancholie mit so viel Leichtigkeit zu verknüpfen. Das ist (eine) Kunst.
»Duo Duo« von The Düsseldorf Düsterboys erscheint am 7. Oktober via Staatsakt. Live-Termine: 23. November, B72 Wien; 24. November, Autumn Leaves Graz; 25. November, ARGEkultur Salzburg; 26. November, Talstation Innsbruck. Hier kaufen.
Leftovers – »Krach«
Wer die richtigen Ohren hat, dürfte schon davon gehört haben, dass eine Band im Wiener »Untergrund« – danke dafür – zuletzt für mehr Aufsehen gesorgt hat, als durchschnittliche Augen pro Tag sehen können: Leftovers, nur echt ohne Artikel, sind quasi die Rockband für die Generation Zwidemu, aufstrebend, Potenzial, Superlative, Zukunft, weitere Superlative. Wenn ich jetzt sage »österreichische Måneskin«, rollt mein Kopf, zurecht, denk eher an modernen Noise-Rock, aber schon ein bisschen mehr Rock als Noise (falls du immer noch nicht weiß, wie die Gruppe klingt, klicke auf das Video!) Es ist kein Wunder, dass das Wiener Label Phat Penguin, das etwa auch Buntspecht den Weg vom Szenephänomen an die Spitze der Charts geebnet hat, für das Debütalbum des Vierers verantwortlich zeigt, da wird schon gut gescoutet. Anyway, auf »Krach« ist der Name natürlich Programm, wenngleich schon der musikalischen Dynamik auch Platz eingeräumt wird, in der Regel sind aber natürlich die Regler eher im Zehner-Bereich. Und dort gehören sie auch hin. Wie Leftovers an die Spitze der Charts!
»Krach« von Leftovers erscheint am 28. Oktober via Phat Penguin. Live-Termine: 20. Oktober, Music House Graz; 30. Oktober, Fluc Wien; 5. November, Stadtwerkstatt Linz; 25. November, Bludenz. Teilweise als Vorband für Muff Potter(!), Cari Cari und Buntspecht. Album hier kaufen.
Fehlfarben – »?0??«
Im Alter kann man sich auch einmal Zeit lassen: Und Fehlfarben, diese unumstößlichen Vorreiter dessen, was als deutschsprachiger Post-Punk einen festen Platz in unser aller Herzen einnimmt, haben sich für ihr insgesamt bereits zwölftes Album reichlich Zeit gelassen, sieben Jahren sind seit »Über… Menschen« vergangen. Zeit, die etwa Frontsau Peter Hein mit seiner Zweitband Family*5 genutzt hat, erst im Mai erschien zu »Monarchie und Alltag«, dem definitiven Fehlfarben-Album, ein Songcomic – Empfehlung an dieser Stelle! Aber auch für »?0??« – eine Anspielung auf die allgemeinen Verunsicherungen dieses Jahres – wurde die Zeit gut genutzt. Während der »Maßnahmen« umgesetzt und produziert, werden – natürlich – die Unwegsamkeiten dieser Tage dem fälligen Diskurs unterzogen, analysiert und in gewohntem Sloganismus ohne großen Interpretationsspielraum in den Äther geschrien. Eindrucksvoll etwa in der ersten Vorab-Nummer »Europa«, welche durch das Video auch optisch ein Highlight ist. Sowieso: Highlight, gutes Stich- und Endwort.
»?0??« von Fehlfarben erscheint am 14.10.2022 via Tapete. Live Termine: 10.11. Arena Wien. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Ein Gespenst – »Bei Tageslicht«
(VÖ: 14. Oktober 2022)
Wenn der Elias Hirschl, seines Zeichens Autor, Radiostimme, Fernsehgesicht und Bachmannpreisträger (Publikum, aber immerhin), etwas macht, dann hat das wie bewiesen Hand und Fuß. Und auf dem ersten Album seines gemeinsamen Projektes mit Christopher Hütmannsberger jede Menge Hall: Der leicht schlagerhafte Indie-Wave ist ziemlich gut tanzbar, die Texte relatable. Mehr dazu gibt’s in der aktuellen Ausgabe von The Gap.
Vienna Rest in Peace – »Album für die Jugend«
(VÖ: 23. Oktober 2022)
Wer bei all diesem Geschrei und Stress da draußen auch einmal mehr als nur seinen Fernseher abschalten will, dem wird der beherzte Griff zum zweiten Album von Vienna Rest in Peace dringlichst empfohlen. Der düstere Kammerpop, der vor allem auf dem traumhaften Titelsong gespielt wird, unterstützt den kalten Herbstnebel beim Benebeln unwirtlicher Befindlichkeiten, ich sag nur: Zeilen wie »Wir waren doppelt so traurig wie Kurt Cobain«. Weitere Infos gibt’s in der aktuellen Ausgabe von The Gap.
Ellyster – »Paradies«
(VÖ: Oktober 2022)
Hände hoch: Wer erinnert sich noch an die burgenländische Ska-Kombo Ramazuri? Nach deren Aus im Jahr 2018 versucht sich Sänger Sandro Kallinger an verschiedenen Genres und bleibt schließlich bei selbst ausproduzierten deutschsprachigen Pop-Punk-Songs hängen: Eine gute Entscheidung, welche bereits die Vorab-Songs »Element«, »Fließbandprodukt«, »Mein König« oder eben auch »Paradies« beweisen. Treibende Songs mit Message!
Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.