Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Oktober 2019

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

Dr. Drexler © Bruno Tenschert
© Bruno Tenschert

Komplizen der Spielregeln – »Komplizen der Spielregeln«

Komplizen der Spielregeln
© Komplizen der Spielregeln

Den aufmerksamen Rezipienten ist es schon wie ein Mantra ins Hirn gemalt: Pop ist nie nur Ausdruck von Ungerechtigkeiten, sondern produziert diese auch selbst. Wie sonst ist erklärbar, dass die Kölner Gruppe mit dem tollen Max-Frisch-Namen Komplizen der Spielregeln nach den zwei Großtaten »Es wird nur noch geatmet« (2009) und »Lieder vom Rio D’Oro« (2011) nicht die größten Hallen der Republiken füllt oder – und das darf man durchaus eher schon erwarten – die Lieblinge des Feuilletons sind?! Nun gut, das sperrige Klangbild, zwischen Post Noise und Art Rock, mit Sprech- und Schreigesang, ist nicht gerade konsensträchtig und vermag zu polarisieren. Auch auf dem nun dritten Album – »Amerika, hol mich hier raus!« ist als Doppel-EP einsortiert – reizen die drei das an Komplexität Mögliche von Popularmusik zum Bersten aus. Mit weniger Gitarren, dafür mit mehr klirrender Elektronik und damit auch gefühlt poppiger – sofern das denn überhaupt geht –, ist natürlich das diskursive Element natürlich das bestimmende. Die drei picobello Vorabsongs »Dazwischen«, »TOP: Content« und »Galore« zeigen schon, wo’s langgeht: Hits für die ganz Gescheiten.

»Komplizen der Spielregeln« von Komplizen der Spielregeln erscheint am 18.10.2019 via Offshore Tabernakel Records. Keine Österreich-Termine.

The Düsseldorf Düsterboys – »Nenn mich Musik«

The Düsseldorf Düsterboys © Lukas Vogt
© Lukas Vogt

Überraschender-, aber nicht unbedingt verkehrterweise halten ja doch einige »Die besten Jahre« von International Music für eines der besten Alben der letzten Jahre. Der Zusammenhang muss nicht erläutert werden, International Music sind quasi The Düsseldorf Düsterboys, das darf als bekannt vorausgesetzt werden. Wobei nicht ganz: Die fabulöser benannten Düsterboys gibt’s zumindest namentlich schon länger, die beiden Haupt-Köpfe sind jetzt zu viert und auch Instrumente wurden getauscht. Das Fehlen von Bass ist wesentlich für die Unterscheidung der erzeugten Klänge: Im Vergleich zu »Die besten Jahren« ist »Nenn mich Musik« deutlich ruhiger, entspannter und weniger hypnotisch, Kuschel-Folk wäre jetzt zu viel gesagt. Natürlich bleiben aber Trademarks wie die Chor-Elemente erhalten. Ausdruck der kleineren Anpassungen ist das Überhit »Teneriffa« von vor tausend Jahren, der als »Album Version« nun deutlich verlangsamt und auch exotisiert wurde. Also bitte: Wenn dann Anfang des nächsten Jahrzehnts das neue Album der nun doch zur Hauptgruppe auserkorenen International Music erscheint, wird man ohnehin wieder dazu tanzen können. Aber komm: Jetzt ist ohnehin Winter. Da ist Entschleunigung ganz nett.

»Nenn mich Musik«von The Düsseldorf Düsterboys erscheint am 25.10.2019 via Staatsakt. Mega-Tour, aber noch keine Österreich-Termine.

Schrottgrenze – »Alles verpflücken«

Schrottgrenze © Chantal Pahlsson-Giddings
© Chantal Pahlsson-Giddings

Passiert in letzter Zeit auch häufiger: Es beginnt mit einer Reunion-Show, man ist sich wieder grün, das erste Album nach der Trennung wird gut rezipiert – im Falle von Schrottgrenze war es »Glitzer auf Beton« 2017 – und dann kommt auch das zweite. Obwohl sich die bereits 1994 gegründete Gruppe mit klassischem Indie-Rock verträumter Art in die Herzen vieler gespielt hat, ist ihre Relevanz heute eine ganz andere: Das späte Outing von Sänger Alex Tsitsigias, nun als »kräftige Schwester« Saskia Lavaux für Text und Gesang zuständig, ermöglicht auch die Darstellung von queeren Themen, von Fragen nach Geschlechtlichkeiten, nach kritischen Männlichkeiten und Herabwürdigungen von Gruppen durch emotionale Assoziationen. In der überaus heteronormativen deutschsprachigen Indiewelt ist das quasi fast schon ein Tabubruch, von Ängsten zu singen. Schrottgrenze bieten nicht nur Denkanstöße, sondern auch Lösungsansätze, nicht ganz ohne Parolen – die es aber ohnehin auch braucht –: »Erst wenn wir die Klischees zum Tanzen bringen / brechen wir die Räume auf / Und wenn wir die Klischees ins Wanken bringen / brechen wir die Räume auf«. 

»Alles verpflücken« von Schrottgrenze erscheint am 18.10.2019 via Tapete. Keine Österreich-Termine. 

Love God Chaos  – »Endling«

Love God Chaos
© Love God Chaos

Ein Endling ist das letzte Exemplar seiner Art: Ein bisschen gilt das auch für Love God Chaos, die in der hauptsächlich englischsprachigen Grazer Musikszene ein bisschen eine Ausnahme sind. Bislang haben die vier rund um Sänger Marcus Heider aka John Krempl zweimal im Album-Regal angeschrieben: »Wo das Meer am tiefsten ist« von 2014 und »Die Unmöglichkeit des Nichtscheitern« von 2017 haben in der Steiermark ihre Spuren hinterlassen, die Szene hat sich auch im Video von »Eskalation, bitte« ein Stelldichein gegeben. Zwei Jahre später ist die Grundausrichtung unverändert: Treibender, gitarrenlastiger Alternative Rock, tänzelnd zwischen Indie-Pop und Math, dementsprechend stets variabel und breit aufgestellt, trifft auf originelle, mitunter sloganhafte Texte über die Schönheiten und Herausforderungen des Alltags. Recht neu ist der eingeflochtene orchestrale Anspruch – das Czech Film Orchestra unterstützt etwa beim Opener »Commander« – der »Endling« zum bislang vielseitigsten Album von Love God Chaos macht.

»Endling« von Love God Chaos erscheint am 11.10.2019 via Engine Records. Termine: 22.11. PPC Graz, 11.12. Postgarage Graz.

Dr. Drexler Project – »Kapitalakkumulation«

Dr. Drexler © Bruno Tenschert
© Bruno Tenschert

Es ist die finale Entwicklung des Turbokapitalismus: Die Vermehrung unserer Währung als wahrer Lebensgrund. Auch Dr. Drexler, den ganz genaue Beobachtende der deutschen Post-Punk-Lebenswelten bereits von Gruppen wie Wertlos, N.I.C.H.T.S!2.0 oder zuletzt Fräulein Brecheisen kennen könnten, weiß um die Gefahr von offenbar gesellschaftlich akzeptierter Ausbeutung und Ausgrenzung: Begleitet von analogen Synthies, Drumbeats, Loops und Bässen ätzt Dr. Drexler auf seiner ersten Platte unter eigenem Namen durch die Ungerechtigkeiten: Vom vermeintlichen Leistenkönnen eines 10€-Biers und der Erkenntnis der eigenen Wertlosigkeit: »Aus meiner Wohnung bin ich geflogen / da ist der Plattformkapitalist Airbnb eingezogen / in einer Welt aus Konkurrenz und Wettbewerb / bin ich kein Leistungsträger, ich bin nichts wert« heißt es etwa im schön popkritisch betitelten »Barfuß am Klavier II. Weiteres Beispiel: »Bei Lieferando bestellen, mit Bitcoin bezahlen / 5. Stock Altbau, kein Aufzug, kein Trinkgeld / Das macht mir gute Laune« (»Immer gute Laune«). Das ist klug, das ist dagegen, das ist on point, das ist aggressiv. Das ist große Klasse!

»Kapitalakkumulation« von Dr. Drexler erscheint am 18.10.2019 via Gute Hände/Elfenart. Noch keine Österreich-Termine.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...