Der Vielfalt gerecht werden – Wie Neo-Pronomen eine Lücke füllen

Neo-Pronomen sind in aller Munde. Bei Hatern, Shitstorms und Kritiker*innen auf der einen, in queeren, progressiven und aktivistischen Szenen auf der anderen. Für manche sind sie unent-behrlich, drücken einen Teil ihrer Identität aus, sind notwendig, um richtig sprechen zu können. Für viele sind Neo-Pronomen aber einfach nur schwer verständlich. Ihr Zweck ist nicht nach-vollziehbar, ihre Verwendung unklar, ihre Lesbarkeit fragwürdig. Über die Herkunft von Neo-Pronomen, warum die Gewöhnung an sie sehr viel schneller gehen kann, als wir glauben, und welche wichtige Lücke sie füllen.

© Illi Anna Heger / www.annaheger.de

Was ist ein Name? Eine Bezeichnung, eine Anrufung, etwas, das uns andere nennen. Namen sind etwas, das wir über uns hören, das uns zugerufen wird, worauf wir trainiert sind zu reagieren. Aber Namen sind mehr. Sie sind Teil unserer Identität. Wenn ich sage, »Ich bin Bernhard«, dann bedeutet das mehr als nur »Ich heiße Bernhard« oder »Ich werde Bernhard genannt«. Mein Name gehört zu mir, ist Teil von mir, mit allen Ambivalenzen, die dazugehören: etwa meiner Ambivalenz gegenüber den germanischen Wurzeln des Namens, der Kultur und Geschichte, mit der mich dieser Name verbindet. Oder meiner Ambivalenz gegenüber der Ästhetik des Namens, seiner Übersetzbarkeit in andere Sprachen, seiner Aussprache und Aussprechbarkeit. Oder meine Ambivalenz gegenüber seiner eindeutigen geschlechtlichen Zuschreibung, die mich nachhaltig mit einem Geschlecht verbindet, in dem ich mein Leben lang sozialisiert wurde, aber zu dem ich schon lange keine besondere Zugehörigkeit mehr fühle.

Doch mit meinem Namen verbinden sich auch schöne Dinge, Erinnerungen, meine eigene Geschichte. Mein Name ist mit mir und ich bin mit meinem Namen gewachsen. Wir haben uns über die Jahre zerstritten, ausgesöhnt, angefreundet. Mein Name steht für diese Geschichte, er ist Platzhalter und Kürzel für mich, für meine Identität. Dabei hilft, dass Namen vielschichtig, divers und – gemessen an der gesamten Menschheit – selten sind. »Bernhard« schreibt mich in eine bestimmte kulturelle Linie ein, aber nicht nur. Es schreibt mich in einen bestimmten Sprachraum ein, aber nicht nur. Es schreibt mich in eine bestimmte Geschlechtlichkeit ein, aber nicht nur. »Bernhard« gehört zumindest so viel zu mir, wie zum Rest der Welt.

Auch Pronomen sind eine Bezeichnung, eine Anrufung, etwas, das uns andere nennen. Sie sind Platzhalter für unseren Namen, für unsere Identität, für uns. Sie verkürzen uns auf bis zu zwei Buchstaben. Sie nehmen uns Arbeit ab, wenn wir über uns, zu anderen oder über andere reden. Doch gerade im Deutschen sind Pronomen kaum divers, kaum vielschichtig und der Ballast, den sie mitschleppen, rekurriert vor allem auf eine Kategorie: Gender. Für Menschen – abseits von kleinen Kindern, deren Namen wir nicht kennen – haben wir in der dritten Person Singular in der Regel die Wahl zwischen exakt zwei Optionen: »er« und »sie«, männlich und weiblich. All die Komplexität, all die Diversität menschlicher Erfahrung runtergebrochen auf diese binäre Entscheidung: männlich oder weiblich?

Täglicher Spießroutenlauf

Nicht-binäre Menschen, die sich außerhalb der Binarität von männlich oder weiblich verstehen, haben in diesen beiden Optionen kaum Platz. Vielleicht ist ihr Geschlecht irgendwo zwischen den Schubladen einzuordnen (bigender), vielleicht fluktuiert es mit der Zeit oder der Situation (genderfluid), vielleicht besteht es völlig unabhängig von diesen beiden Schubladen (genderqueer) oder vielleicht hat die Person gar kein Gefühl davon, überhaupt so etwas wie ein Gender zu haben (agender) – um nur ein paar Möglichkeiten zu nennen. Manche nicht-binäre Menschen verwenden für sich die binären Pronomen, manche vermeiden Pronomen ganz. Für viele Menschen, deren Gender nicht in die beiden klassischen Schubladen passt, bedeuten Pronomen einen täglichen Spießroutenlauf.

In der Forschung hat sich dafür der mitunter missverstandene Begriff der Mikro-Aggressionen etabliert. Diese sind – nicht unbedingt böswillig oder gar aggressiv gemeinte – Akte gegenüber einer Person, die diese in ihrer (marginalisierten) Identität verletzen. Mikro-Aggressionen sind trügerisch, weil sie als Einzelakte kaum greifbar und damit auch kaum kritisierbar sind. Die Anzahl und Wiederholung ist es, die ihnen ihr aggressives Potenzial verleiht. Wenn mich etwa Menschen immer und immer wieder als »Bernd« anreden würden, den ganzen Tag. Wenn ich permanent entweder Menschen korrigieren müsste oder aber ertragen, dass sie für mich den falschen Namen verwenden. Wenn mir ständig signalisiert würde, dass Menschen mich und meine Identität nicht genug respektieren, um meinen richtigen Namen, den Namen, mit dem ich mich identifiziere und mit dem ich mich selbst bezeichne, zu verwenden. Das wären Mikro-Aggressionen – ihre Folgen: konstante Irritation, zunehmende Selbstzweifel, soziale Distanzierung.

Wie viel schlimmer, wenn sich diese Mikro-Aggressionen gegen Teile der Identität richten, die ohnehin schon Angriffspunkte von Marginalisierungen sind, von Diskriminierungen. Wunde Punkte, aufgerieben und empfindlich durch weit größere, sichtbarere und direktere Akte von Gewalt. Solch wunde Punkte attackiert etwa die Verwendung von falschen Pronomen für trans und – im spezifischen Fall – nicht-binäre Menschen. Jedes falsche »er« oder »sie« ist ein winziger Schnitt in die eigene Identität, dutzende winzige Schnitte im Alltag. Immer wieder, mal erwartet, mal überraschend. So viele Schnitte im Laufe der Zeit, bis die ganze Identität zur offenen Wunde wird.

Die Lücke füllen

Unter anderem deswegen entwickelt Illi Anna Heger seit 2008 das Neo-Pronomen »xier« auf der Website www.annaheger.de/pronomen gemeinsam mit Freund*innen und Nutzer*innen. Illi hat einen naturwissenschaftlichen Hintergrund, macht dokumentarische Comics und leitet queere Workshops – auch zu Neo-Pronomen. Neo-Pronomen sind Pronomen, die es vorher in dieser Form nicht gab. Sie sollen die Lücke schließen, die zwischen, neben und rund um »er« und »sie« aufklafft. Alternativen zum dritten Fall Singular, oder wie Illi es nennt: zu den »Tratsch-Pronomen«, also Pronomen, die wir eigentlich eh nur verwenden, wenn wir über andere Menschen sprechen: »Die meisten Pronomen, die wir benutzen, sind nicht geschlechter-unterteilt, z. B. ich, dein oder uns.«

Die Lücke, die Pronomen wie »xier« hier schließen sollen, ergibt sich einerseits aus nicht-binären Menschen im deutschsprachigen Raum, für die herkömmliche Pronomen eben nicht funktionieren. Sie brauchen eine Alternative, um sich selbst zu bezeichnen und um verletzungsfrei bezeichnet zu werden. Andererseits klafft die Lücke aber auch durch Übersetzungen von Filmen, Büchern und Comics aus Sprachen, in welchen sich ein neutrales Pronomen bereits etabliert hat.

Englisch beispielsweise kennt Singular »they« schon seit dem 14. Jahrhundert für Personen, deren Geschlecht unbekannt oder unbestimmt war. Also vorwiegend, wenn allgemein gesprochen wurde oder mit mangelndem Wissen. Im aktuellen Jahrtausend hat sich »they« dann zunehmend als häufigstes Pronomen für nicht-binäre Menschen etabliert. Neben »they« gab und gibt es jedoch auch eine Reihe von alternativen Neo-Pronomen, etwa »ze«, »fae« oder – ein Vorschlag aus dem 19. Jahrhundert – »thon«, kurz für »that one«.

Dass sich »they« mittlerweile in weiten Kreisen durchgesetzt hat, liegt wohl nicht zuletzt an der langen Geschichte und der damit einhergehenden Gewohnheit. »They« fiel nicht weiter auf, es lenkte nicht vom Inhalt ab. Doch das Schwedische zeigt, dass diese Gewohnheit oft schneller gehen kann, als man, frau und eins glauben. Das Neo-Pronomen »hen« wurde zwar schon 1966 vom Linguisten Rolf Dunås als neutrale Alternative zu »hon« (»sie«) und »han« (»er«) vorgeschlagen. Allerdings begann es sich erst um 2010 tatsächlich zu etablieren, um dann bereits 2015 ins offizielle schwedische Wörterbuch aufgenommen zu werden. Mittlerweile ist es in Zeitungen, Filmen, Gesetzestexten und Alltag gut verbreitet. Auch wenn es vielleicht noch nicht dieselbe Selbstverständlichkeit der binären Geschwisterpronomen erreicht hat, zeigt Schweden, wie schnell verkrustete Sprachkonventionen aufbrechen können. Sobald der notwendige Druck da ist.

Eine Karte häufiger Neo-Pronomen in europäischen Sprachräumen (Bild: Bernhard Frena / rechtefreie Wikimedia)

Kultur als Multiplikator

Im Deutschen baut sich dieser Druck gerade auf. Auf der Website sammelt Illi akribisch alles, was zur Verwendung von »xier« auf dem Radar aufpoppt. Es wird zunehmend mehr: »Wenn Neo-Pronomen jetzt breiter aufgegriffen werden, liegt das daran, dass sich Menschen auf verschiedenen Ebenen eines Mangels bewusst werden. Übersetzenden Personen fällt auf, dass ihnen eine Entsprechung für das englische Singular ›they‹ fehlt. Das ist eine Übersetzungslücke. In queeren Communitys gibt es das Bedürfnis nach einer funktionierenden Alternative zu ›er‹ und ›sie‹, um respektvoll übereinander sprechen zu können.«  Laut Illi ist »xier« im Moment das häufigste Pronomen in Untertiteln und Synchronisationen, insbesondere aus dem Englischen. Das trägt stark zur Verbreitung bei. »Künstlerische Medien wirken über sich hinaus«, sagt Illi. »Sie sind eine Form von Kommunikation und Weitergabe von Kultur – oft amerikanischer Kultur – darunter auch von so kleineren Phänomenen wie ›they/them‹.«

Neben kulturellen Medien sind es aber vor allem die sozialen, welche für eine Popularisierung sorgen. Die meisten dürften das »he/him«, »she/her«, »they/them« aus Instagram-Bios kennen. Die Angabe von Pronomen hat sich ausgehend von queeren und insbesondere trans Communitys verbreitet – meist mit weiteren angegebenen Fällen, um die Deklination bei Neo-Pronomen klarer zu machen.

Für progressive Internet-Nutzer*innen ist die Angabe zum De-facto-Standard geworden. Indem auch cis Personen ihre Pronomen angeben, soll die Abfrage und Angabe für trans Personen erleichtert und normalisiert werden. Doch das ist nicht für alle nur positiv, insbesondere nicht für Menschen, die sich noch nicht outen können oder wollen. »Die müssen sich dann möglicherweise selbst misgendern, weil sie mitmachen müssen«, erklärt Illi. »In meinen Workshops habe ich mitgekriegt, wie stressig das ist für Menschen, die questioning sind und gerade ihr Geschlecht hinterfragen, oder für Leute, für die es noch keine etablierten Pronomen gibt. Es stresst dann genau jene Gruppen, die wir eigentlich schützen wollen.« Hier ist es wichtig, dass eine Normalisierung nicht zu einem neuen Zwang wird (siehe »Dos & Don’ts im Umgang mit Neo-Pronomen«).

Positiv-negative Shitstorms

Doch die Verbreitung der Neo-Pronomen erfolgt nicht nur über positiv gemeinte Aktionen, wie Illi beschreibt: »Ich habe drei große Shitstorms in sozialen Medien miterlebt, wo sich Leute über Menschen lustig machen, die ›xier‹ für sich verwendeten. Wenn queere Kultur als Belustigung verwendet wird, ist das verletzend. Es ist jedoch ein positiver Aspekt, dass Hater ›xier‹ nochmal sehr viel weiter verbreitet haben. Sie haben es in Kreise getragen, die weit weg von queerem Aktivismus sind. Ich finde, es ist etwas Gutes, wenn mehr Menschen mitbekommen, was Neo-Pronomen sind. Das Wissen um diese Option macht einen Unterschied.«

Das bringt Illis Zugang zu Neo-Pronomen auf den Punkt. Einfach mal Angebot schaffen und schauen, wer es annimmt. »Sprachnerdigen Spieltrieb« nennt Illi das augenzwinkernd. Es braucht ein Ausprobieren, ein Wissen um die Optionen. Wenn wir nicht wissen, dass es überhaupt Alternativen gibt, sei es unmöglich, sich darüber zu unterhalten, welche Alternative am besten ist, so Illi: »Wir müssen erst einmal wissen, dass wir so was haben dürfen, bevor wir überlegen können, was wir haben wollen. Ich muss erst mal wissen, dass ich Eis kriegen könnte, bevor ich entscheide, dass Schoko das leckerste ist. Es muss erst Eiscreme geben.«

Das vielfältige Angebot an Pronomen-Eiscreme ist in den letzten Jahren beständig gewachsen. Neben »xier« gibt es mittlerweile eine Vielzahl von anderen Neo-Pronomen (siehe »Das kleine Einmaleins der Neo-Pronomen«). Manche haben sich parallel zu »xier« entwickelt, manche als Alternative, oder weil sie sich einfach individuell für einen Menschen richtiger anfühlten. Das Missy Magazin hat sich erst vor Kurzem entschieden, als Magazin von nun an das »dey«-Pronomen als eine neutrale Option zu verwenden. Es ist sprachlich angelehnt an das Englische »they« und findet aktuell gerade in queeren Kreisen zunehmende Verbreitung.

Illi Anna Heger: »Klar wirkt sich veränderte Sprache auf Gesellschaft aus. Aber gleichzeitig führen gesellschaftliche Veränderungen zu neuer Sprache.« (Foto: Illi Anna Heger)

Sprache im Wandel

Für Illi ist das allerdings alles keine Frage der Konkurrenz: »Letzten Endes arbeiten wir alle zusammen daran, die Sprachlücke zu füllen. Wir sind gerade in einer Entwicklungsphase, wo es einfach Vielfalt geben muss – egal, was später passieren wird. Wird es ein neues Pronomen geben, das sich durchsetzt? Wird es eine große Vielfalt an etablierten Pronomen geben? Wird es überhaupt nur noch ein Pronomen für alle geben, wie zum Beispiel im Ungarischen? Das hängt davon ab, wohin der Sprachwandel geht, also von allen Menschen, die Deutsch sprechen.«

Von Seiten der Kritiker*innen wird oft eingeworfen, das sei doch alles nur Sprachpolitik, das habe kaum reale Auswirkungen, das sei bestenfalls rein akademische Energieverschwendung, schlimmstenfalls lenke es von den eigentlich wichtigen Dingen ab. Das ist einerseits ein müßiger Diskurs, weil wir alle keine Aktivismus-Roboter sind. Wir entscheiden nicht nach rein rationalen Gesichtspunkten, wofür wir uns engagieren, welche Probleme uns besonders stören und wo wir das Gefühl haben, uns gut einbringen zu können.

Inwiefern diese Kritik den eigentlichen Punkt ignoriert, weiß Illi: »Es ist für mich eben keine Frage von Politik, sondern von einem Sprachwandel, der ausgelöst wird durch einen Mangel. Klar wirkt sich veränderte Sprache auf Gesellschaft aus. Aber gleichzeitig führen gesellschaftliche Veränderungen zu neuer Sprache. Das sind parallele Entwicklungen, die sich auch gegenseitig beeinflussen.« Es ist also kein entweder-oder, sondern ein und.

Neo-Pronomen sind für Illi nicht der letzte Schritt in dieser sprachlich-gesellschaftlichen Veränderung. Sie bedienen einen Mangel, der jetzt gerade herrscht, doch wohin sich die deutsche Sprache in Zukunft entwickelt, ist für Illi im positivsten Sinne offen: »Wir brauchen Sprache, um die diversen Menschen der Gesellschaft abbilden zu können. Für mich stellt sich die Frage: Warum muss das Geschlecht von Menschen immer wieder in Texten angegeben werden? Was bringt es auch binären Männern und Frauen eigentlich, dass über sie als Männer und Frauen gesprochen wird? Wo ist es überhaupt nötig zu gendern?«

Gerechte(re) Sprache

Vielleicht schaffen wir es eines Tages, die starke Geschlechtlichkeit der deutschen Sprache loszuwerden. Oder vielleicht wird es einmal ein oder mehrere etablierte neutrale Pronomen im Deutschen geben. Klassische Medien wie Film, Fernsehen, Radio und Print sind essenziell, um diese Entwicklung voranzutreiben. Es reicht hier nicht, sich auf den Posten der neutralen Beobachter*innen zurückzuziehen. Wir müssen Stellung beziehen. Nur so wird dieser Diskurs zu einem breiten Diskurs, einem Diskurs, der Sprache nachhaltig ändert.

Bis dahin muss ich mich wohl damit abfinden, dass jedes »er« über mich ein kleines bisschen zwickt. Vielleicht nicht genug, um zu verletzen, nicht genug, um meine Identität zu einer offenen Wunde werden zu lassen. Aber genug, um mir den Tag herbeizuwünschen, an dem auch die deutsche Sprache der menschlichen Vielfalt ein kleines bisschen gerechter geworden ist.

Comics, Pronomen und alles andere von Illi Anna Heger findet man im Internet unter www.annaheger.de. Übersicht und Diskurse über Neo-Pronomen und nicht-binäre Identitäten unter www.nibi.space.

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