Die Geburt der Interaktivität aus dem Geiste der Rezeptionsästhetik – Vom Nutzen und Nachteil der virtuellen Welt als Leerstelle.
Autor – Text – Leser. Um dieses Grundgerüst dreht, wendet und windet sich die Literatur : Theorie. Die Dosis der einzelnen Konstanten ändert sich dabei im Wandel der Zeit. Unterschiedliche Methoden fokussieren einen dieser Teilbereiche mehr oder weniger und spinnen so ihre Sichtweise fort. Wenn wir beispielsweise die Rezeptionsästhetik hernehmen, richten wir unseren Blick auf den Leser. Besonders die von Wolfgang Iser geschaffenen „Leerstellen“ interessieren uns, weil sie – und hier spanne ich den Bogen ins 21. Jahrhundert – genauso wie die Möglichkeit der Interaktivität in der Web 2.0 Welt um eine Dimension erweiternd wirken. Die neue Instanz, der Leser, führt zur vollkommenen 3-Dimensionalität vergleichbar mit der Interaktivität, die das Social Media Feld liefert. Diese Tatsache und diese Möglichkeit der einfachen Meinungsäußerung für alle und persönlichen Textauslegung durch das Füllen der „Leerstellen“, führt zwangsläufig zu einer unüberschaubaren Meinungsüberflut, einem unendlichen Deutungsspiel, würde Paul de Man sagen, einem Heer an verkrampften Aussagen, vielleicht Nietzsche. Der wäre ohnehin und ohne Zweifel der größte Blogger überhaupt. Der Shootingstar der Blogosphäre. Dieser Zynismus, dieses Nihilistische – was würde ihm näher liegen, was würde er eher lieben? Zynisch und nihilistisch. – Diese grundlegenden Tugenden wurden der Bloggernation von den zwei US-Journalisten David Kline und Dan Burnstein[1] verliehen. Der Netz-Zynismus könnte von einer Art „Beichte“ herrühren, wie Michel Foucault sie beschreibt.
“Den Leuten wird beigebracht, dass es keine Befreiung geben kann, wenn sie nicht die Wahrheit sagen.“ [2]
Was sie früher dem Priester gebeichtet haben, erzählten sie später auf der Couch des Psychiaters und jetzt in ihrem Blog. Der Blog als perfekte Projektionsfläche also. Als Geschenk, das keiner bestellt hat und als Anhaltspunkt in einer Welt der permanenten Werteverschiebung und des Vielgötterglaubens im Sinne von Too-many-Götter-to-choose.
Selbst wenn wir annehmen würden – kühnerweise –, dass wir in einer Zeit leben, in der die Theorie schon untergegangen scheint, weil Kritik nur noch eine konservative Tätigkeit war und Kritiker nur noch Werte und Werteverluste einander abwechseln ließen, kann man aber dennoch nicht das Bloggen als direkte Ablöse der Theorie sehen oder verantwortlich machen. Auch Geert Lovink[3] vertritt die These, dass es sich bislang noch nicht als sinnvoll erwiesen habe, Blogs als neue Form der Literaturkritik zu interpretieren. Solch ein Unterfangen müsse scheitern. Die „Krise der Kritik“ wurde wieder und wieder beschworen, und die Kultur der Blogs hat diese Sackgasse von Anfang an ignoriert. Wo ich persönlich aber einen Übergang sehe, da geben sich Dekonstruktivismus als literaturtheoretische Strömung und das individuelle Bloggen eines jeden die Hand. Wenn der typische Dekonstruktivist von einer Fülle von Ergebnissen und Auslegungsweisen ausgeht und sich schier nicht hinaussieht, setzt der Blogger ein und lebt in der Hyperaktualität um diesen Wahnsinn an Informationsüberfluss zu entfliehen. Wie Stefan Lorenz[4] so schön zusammenfasst:
We live from day to day, from vacation to vacation, from news show to news show, from problem to problem, from orgasm to orgasm, in private turbulances and medium-term affairs, tense, relaxed. With some things we feel dismay but with most things we can’t really give a damn… We would still like to see a lot of the world and in general ‘to live a whole lot more.’ We ask ourselves what to do next and what will happen next. In the Feuilleton of the Zeit, the culture critics argue about the right way to be pessimistic.”
Wir leben von Tag zu Tag, von Urlaub zu Urlaub, von Nachrichtensendung zu Nachrichtensendung, von Problem zu Problem, von Orgasmus zu Orgasmus, in privaten Turbulenzen und in mittelfristigen Affairen, gespannt, entspannt. Bei manchen Dingen empfinden wir Bestürzung, aber um die meisten können wir uns wirklich nicht kümmern… wir würden gerne noch viel von der Welt sehen und überhaupt „viel mehr leben“.
In der Welt des Postkonstruktivismus – oder im Postdestruktivismus? – bieten Blogs einen niemals endenden Strom an Bekenntnissen, einen Kosmos an Mikromeinungen. Konsequent dazu verlieren herkömmliche Nachrichten und mit ihnen auch alle Formen der literaturtheoretischen Geschichte ihren Stellenwert. Das hat zwei nennenswerte Gründe – Zum einen bleiben keine großen Spielräume mehr, wenn alle Phänomene über Genderperspektiven, aus psychoanalytischer Sicht, über Postkolonialismus und so weiter erklärt und miteinander verknüpft werden können und als zweiten Punkt nimmt der bedingungslose Glaube an die Botschaft ab. Soll heißen: Das gedruckte Wort, die Deutungshoheit der Kritiker hat ihre Aura verloren. An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Rückblick bis ins 4 Jhdt. geben. Unseren Blick werfen wir auf Aelius Donatus und sein Modell, das 6 Teile umfasst, die für einen Text wesentlich sind, aber den Autor gänzlich unerwähnt lässt.
Sehr viel später, nämlich im Mittelalter taucht der Accessus ad Autores auf und wie der Name schon sagt, bedeutet dies hier einen Zugang zu den Autoren. Die 2. Instanz wurde wichtiger. Nicht nur das Werk, sondern auch der dazugehörige Autor spielt eine Rolle. Wir wagen einen noch größeren Zeitsprung, und zwar zu Hans-Robert Jauß und Wolfgang Iser, die die dritte Instanz integrieren und somit die Perspektive einmal mehr erweitern. Der Leser – als diese neue Dimension – hat die Aufgabe, das ausmerzen, was die Vielfalt der unterschiedlichen Theorien schaffen. Die Lücke zwischen aneinander stoßenden Ansichten gilt es zu füllen. Diese sogenannten „Leerstellen“ sind vergleichbar mit den oben erwähnten Spielräumen. Man könnte also als Resultat die erweiterte Instanz des Bloggers mit der des Lesers vergleichen. Als Nietzscheanischer Akt wächst das Bloggen aus einem Nihilismus der Stärke und nicht aus der Schwäche des Pessimismus. Blogs sind aber oft auch Ausdrucksmittel persönlicher Ängste, Unsicherheit und Desillusionierung. Gerade in diesem Fall könnte man dann also auch sagen, dass sie eine Negativstimmung sind, die nach Komplizen sucht. Das tut diese Stimmung in jedem Fall, egal, welcher Grundstimmung sie unterworfen ist. Denn das Spektrum der Emotionen auf Blogs ist viel breiter gefächert als das der herkömmlichen Texte und der traditionellen Medien. Privates mit Öffentlichem vermischen ist geradezu der Imperativ des Bloggertums. „Ich blogge, also bin ich.“, könnte man sagen und gleichzeitig auch das Element der Interaktivität hinterherwerfen, welches der zentrale Aspekt der Web 2.0 Welt in der Abgrenzung zu anderen Medien ist. Der Autor, der seinen Inhalt ins Netz stellt, sieht sich gleichzeitig als Regisseur und Darsteller seines Lebens. Gerade bei Jugendlichen geht es hierbei sehr stark um Fragen der Selbstermächtigung und der Identitätssuche. Schon zuvor genannte Befreiungsdiskurse und eine unheimliche Authentizität sind deshalb sehr präsent und könnten als neue Charakteristika von Texten gesehen werden, das durch die Verschiebung von Theorie und Kritik auf Amateure geschieht. David Kline äußert sich dahingehend so:
„Nicht jeder freut sich darüber, dass der ungebildete Pöbel sich nun traut, öffentlich zu reden.“ „ Man fragt sich, für wen diese unglücklichen Seelen bloggen“, feuert der Dekan der Indiana Universtät, Blaise Cronin, aus dem Hinterhalt. „Warum entschließen sie sich, ihre unmaßgebliche Meinung zu äußern, salbungsvolles Geschwafel und unerquickliches Privatleben dem möglichen Blick von völlig Fremden auszusetzen?“ [5]
Ein weiteres Gegenargument und gleichzeitig eine Eigenschaft dieser Art zu schreiben, wäre die Neigung zu Polarisierung und Extremismus. Dies könnte man zwar auch den unterschiedlichen literaturtheoretischen Strömungen zuschreiben, aber nicht das Produzieren von Gereiztheit und Spott anstatt von Debatte und Fakten. Um noch einmal auf „Ich blogge, also bin ich“ zurückzukehren, könnte man sich wie Nietzsche fragen, in wie weit der Mensch zur (Selbst-)erkenntnis fähig ist und was er über sich selbst weiß, beziehungsweise wie der Mensch versucht, sich selbst zu finden. Laut Nietzsche weiß der Mensch nicht viel über sich selbst und kann auch nicht viel kontrollieren, geschlossen im System (der Sprache/der Grammatik). Viel wichtiger aber ist die Frage nach dem Trieb zur Wahrheit. Aus Not und Langeweile muss der Mensch ein soziales Leben führen. Als Kommunikationsmittel dient uns dabei die Sprache und auch das Kommunizieren über Drittes, über Ausdruckmittel künstlerischer Art, wobei in diesem Fall eine indirekte Form der Kommunikation zustande kommen kann und man von „Cocooning“ sprechen könnte. Der Blogger sitzt alleine in seinem Zimmerchen und sucht sich in der virtuellen Welt zu platzieren. Eigentlich bedeutet dies aber auch eine Suche nach sich selbst. Planlos irrt er wie das kleine Ich-bin-Ich im Netz herum und versucht sich selbst zu entdecken, zwischen den Zeilen von anderen. Die virtuelle Welt als Spiegel gesehen mit dem man sich selbst aufwerten kann. „Man kann sich selbst als denjenigen sehen, der man sein möchte“, und „man kann sich mithilfe des Spiegels selbst aufwerten.“ In Ebrahimis Pages-Artikel erläutert Harfhaye Alpar:
„Es ist wie ein Spiegel, weil es immer offen ist. Ich schaue alle fünf Minuten nach, was ich geschrieben habe, ohne es zu lesen, geradeso wie ein absichtsloser Blick in den Spiegel.“[6]
Genauso wie Nietzsche die Sprache einengend empfindet und gleichzeitig so göttlich einsetzt und versucht, ihrer Herr zu werden, könnte ein Umgang mit dem Bloggen und dem gesamten Social Media funktionieren. Die Literaturtheorie wird, wie auch schon erwähnt, nicht abgelöst, sondern eher erweitert, genauso wie eine ganz neue Art des Schreibens und Reflektierens eingeführt wird. Ändert die Schnelligkeit, das Kurzlebige unseren Schreibstil? Der Medientheoretiker Marshall McLuhan war schon in den 60er Jahren der Meinung, die Medien hätten nicht nur eine passive Nachrichtenübermittlerrolle inne. Sein bekanntester Ausspruch „The Media is the Message“ gilt also genauso richtungsweisend wie Berthold Brechts Text „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“. Beide wollten wie auch Hans Magnus Enzensberger, die Macht des Mediums richtig erkennen und nutzen. Wenn wir uns nun die besondere Form des Bloggens, speziell des Microbloggens am Beispiel Twitter ansehen, können wir von einem unaufhörlichen dauerhaften Nachrichtenstrom sprechen und von einer Veränderung des Denkvorganges dadurch. Unser Gedächtnis – hat es sich einmal daran gewöhnt – erwartet den Inhalt ähnlich wie aus dem Netz – in einem permanenten Strom kurzer und prägnant portionierter Informationshäppchen. Apps aus Zitaten, mundgerechte Nahrung für den Geist. Andrew Keen meint so schön formuliert: "Twitter isn’t necessarily turning us into twits.” [7]
Wir werden durch diese Art und Weise der Informationszufuhr also nicht unbedingt zu Schwachköpfen. Diese Schnelllebigkeit ist nicht mit Dummheit gleichzusetzen. Aber was nun für uns wichtig ist, ist die Veränderung, die diese Schnelllebigkeit auf den Aphorismus und das pointierte Schreiben überträgt.
Philosophen wie Wittgenstein und Nietzsche wären zwei Exemplare, von denen man erwarten hätte können, dass sie sich von einer solchen Entwicklung mitreißen lassen hätten. Der Intellekt der Knappheit. Hochgeistiges gebündelt in 140 Zeichen. Das würde keine digitalen Tolstois hervorbringen. Es würde uns zwingen, schnell auf den Punkt zu kommen und das dennoch stilvoll zu tun, wie eben Nietzsche immer schrieb. In einem Brief wies ein Freund Nietzsches auf dessen veränderten Schreibstil hin und fragte sich und ihn, ob dieser Umstand mit dessen neuer Schreibmaschine zusammen hing.
Denn 1882 wechselt Friedrich Nietzsche für kurze Zeit das Schreibmedium und benutzt eine Frühform der Schreibmaschine – die Schreibkugel des Kopenhagener Pastors und Taubstummenlehrers Hans Rasmus Johan Malling Hansen (1867). Produkt dieser Zeit sind fünfzehn Briefe, eine Postkarte sowie vierunddreißig lose Blätter mit Gedichten, Sprüchen und Schreibübungen. [8]
Diese Schreibmaschinentexte bieten einen Blick auf Nietzsche als frühen Medien- oder Schrifttheoretiker. So schreibt Nietzsche an seinen Sekretär Heinrich Köselitz:
„Sie haben recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ [9]
Das gilt speziell auch auf das Medium Youtube, auf das ich hier nicht näher eingehen möchte. Kurz sei jedoch dazu gesagt, dass sämtliche Tutorials und ähnliche Selbstdarstellungsvideos eine ganz eigene Art von Narzissmus einleiten und dabei kann es auch nicht schaden, sich an Nietzsche zu halten, wenn er meint:
"Wer aber leicht werden will und ein Vogel, der muß sich selber lieben: – also lehre ich. Nicht freilich mit der Liebe der Siechen und Süchtigen: denn bei denen stinkt auch die Eigenliebe! Man muß sich selber lieben lernen – also lehre ich – mit einer heilen und gesunden Liebe: daß man es bei sich selber aushalte und nicht umherschweife." [10]
[1] Kline, David; Burstein, Daniel: Blog! : how the newest media revolution is changing politics, business, and culture in Lovink, Geert: Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur. (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) Bielefeld trascript Verlag 2008
[2] Michel Foucault – Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit, Band 1) in Lovink, Geert: Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur. (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) Bielefeld trascript Verlag 2008
[3] Lovink, Geert: Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur. (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) Bielefeld trascript Verlag 2008
[4] Stefan Lorenz Sorgner, „In Search of Lost Cheekiness, An Introduktion to Peter Sloterdijk´s Critique of Cynical Reason“ in http://www.tabvlarasa.de/20/sorgner.php
[5] Lovink, Geert: Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur. (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) Bielefeld trascript Verlag 2008
[6] Lovink, Geert: Zero Comments: Elemente einer kritischen Internetkultur. (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) Bielefeld trascript Verlag 2008
[7] (http://andrewkeen.typepad.com/the_great_seduction/2008/06/is-brevity-dumb.html; 19.2. 2011)
[8] Nicholas Carr: http://www.theatlantic.com/technology/archive/2010/09/is-google-making-us-stupid/62964/)
[9] (http://www.momo-berlin.de/Nietzsche_Schreibmaschinentexte.html)
[10] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Sämtliche Werke in Kröners Taschenausgabe Stuttgart Kröner 1988, 18. Ausgabe