Not quite dare yet

Der neueste Superhelden-Serienstreich aus dem Hause Marvel schlägt ungewohnt düstere Töne an. Warum »Daredevil« damit kein echtes Wagnis eingeht und genau deshalb den Zahn der Zeit trifft.

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Wenn heutzutage der Begriff Comic fällt, werden damit längst nicht mehr bunte Heftchen und Sprechblasen assoziiert. Die Adaptionen von Comicvorlagen haben über die letzten Jahre Auswüchse erreicht, die sich heute kaum noch überblicken lassen. Comic-Blockbuster machen Umsätze, die Oscar- und Autorenfilme niemals erreichen. Neben dutzenden Filmreihen, Videospielserien und einigen skurrilen Musical-Projekten, finden Super- und Antihelden aus den verschiedensten grafischen Vorlagen im goldenen Zeitalter der (TV-)Serie natürlich auch in diesem Medium vermehrt ein Zuhause.

»Daredevil« aus der Multimediaschmiede Marvel ist das jüngste Beispiel eines gängigen Trends, bei der Adaption von Comics die erzählerischen Möglichkeiten von TV und Videostream-Plattformen zu nutzen, um sich einerseits quotentechnisch an einer bereits bestehenden Fangemeinde zu bedienen und andererseits den Begriff davon, was für unterschiedliche Ausformungen Superheldengeschichten und andere comicoriginäre Stoffe in diesem Langzeitformat annehmen können, zu erweitern. Von diversen Crossover-Projekten mit bereits bestehenden Blockbuster-Filmreihen einmal ganz zu schweigen.

Dark and gritty Fantasy

Spätestens seit Christopher Nolans Batman-Trilogie haben Comicadaptionen mit düsterem und realistischem Einschlag auch bei der breiten Öffentlichkeit an Popularität gewonnen und das Interesse an Comic- und Graphic Novel-Geschichten mit psychologischem Tiefgang auch außerhalb der üblichen Leser-Community geweckt. Parallel dazu gibt es auch im TV-Show Bereich, nicht zuletzt dank »Game Of Thrones«, eine Tendenz dazu, neben Gesellschaftsstudien und historischen Dramaserien auch phantastische und übernatürliche Stoffe mit mehr Ernsthaftigkeit zu behandeln.

Im Grunde kann man »Daredevil« als logische Konsequenz dieser beiden Strömungen verstehen. Soll heißen: Mann orientiert sich stark an Filmen à la »The Dark Knight« während man sich an die Konventionen eines modernen TV-Dramas für Erwachsene hält. Was »Daredevil« von kürzlich angelaufenen ähnlichen Projekten wie NBCs »Gotham« oder Sonys »Powers« unterscheidet ist der starke Fokus auf letzteres. Während Action- und Effektspektakel eher im Hintergrund stehen, liegt das Hauptaugenmerk hier darauf, ein Charakterdrama mit moralischen Graustufen zu erzählen, dass in eine durchdachte und großzügig angelegte Handlungsstruktur eingebettet ist.

Die Ereignisse aus dem Megahit »The Avengers«, in dem ein Alien-Angriff einen Teil von New York in Trümmern zurückließ und in dessen Universum auch die Geschichte von Daredevil verankert ist, werden hier nur im Vorbeigehen als „The Incident“ abgetan und als Plotdevice für eine Geschichte über Wiederaufbau, Immobilien und Korruption verwendet. Vom Casting über die Ausstattung bis hin zu den aufwendigen Kampfchoreografien ist hier offensichtlich eine Menge Arbeit und Budget ins Projekt geflossen. So wurde hier etwa für die Regie der ersten beiden Episoden »Mad Men« und »Sopranos« Regisseur und Kameraveteran Phil Abraham engagiert und Paradepsychopath Vincent D’Onofrio (Full Metal Jacket, The Cell) als der Antagonist Wilson Fisk besetzt.

Aus alt mach neu!

All das soll aber nicht heißen, dass »Daredevil« für jeden Comicserien-Fan nun das Maß aller Dinge darstellen wird, wenn auch die Internetreaktionen am Premierenwochenende der ersten Staffel auf einen enormen Erfolg hindeuten. Die Show hat durchaus auch ihre Schwächen. Die wahrscheinlich größte hat sie dabei gerade dem Comic-Hype zu verdanken, der ihr auch den Nährboden gegeben hat. Hat man sich bereits eingehend mit Superheldenmythen auseinandergesetzt, wird einem so gut wie jede Szene aus »Daredevil« bereits bekannt vorkommen und das nicht nur, weil eine direkte Vorlage existiert. Wieder geht es hier um einen verkleideten Rächer, der, mit einem inneren, unbeirrbaren Gerechtigkeitskompass ausgestattet, versucht seine Stadt von finsteren kriminellen Organisationen und durch dunkle Gassen flanierenden Gewaltverbrechern zu befreien.

Bei dem Versuch eine düstere und raue Atmosphäre zu schaffen übernimmt sich die Serie manchmal und lässt weit mehr Blut fließen, als nötig wäre. Die Dialoge sind teils amüsant und haben Biss, zum Großteil bewegen sie sich aber in der heutigen TV-Landschaft vergleichsweise im Mittelfeld und den einen oder anderen Ausrutscher, der einen dann doch kurz aus der pseudorealen, düsteren Atmosphäre reißt, gibt es auch.

Ein kleiner Schritt für Marvel, ein großer für die Comicserien?

Trotzdem, »Daredevil« scheint eine Serie zu sein, die genau das erreicht, was sie will und bleibt dabei seiner Vorlage größtenteils treu. Es ist eine auf allen Ebenen ausgetüftelte Show, mit der man gezielt versucht die Zielgruppe für das stetig wachsende Marvel-Universum weiter auszubauen. Je nach der eigenen Einstellung zu Comicverfilmungen und modernen Dramaserien kann man die Show also als Schritt in die richtige Richtung verstehen. Selbst wenn die bereits von Netflix und Marvel geplanten Nachfolgeserien »Luke Cage«, »Jessica Jones«, »Iron Fist« und »The Defenders« dieses Level nicht halten können, dürfte künftigen Serienumsetzungen origineller, düsterer und berührender Storys aus der Welt der Comics, der Weg ein wenig erleichtert worden sein.

Die gesamte erste Staffel von »Daredevil« ist seit 10. April auch in deutscher Sprachausgabe auf Netflix erhältlich.

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