Unsichtbare Psychorealitäten
Introspektion in der Psychiatrie. In seinem neuen Roman geht Johannes Weinberger dorthin, wo es weh tut. In die psychotische, von Traumata gebeutelte Innenwelt von Johannes Weinberger.
Psychiatrie-Romane – neben dem gänzlich anders gearteten »Irre« von Rainald Goetz ist Weinbergers Leidoffenbarung die eindruckvollste Klinikprosa – werfen bei der Leserschaft immer die Frage nach der autobiografischen Grundierung auf; zumeist begegnen Verlag und Autor dieser mit einer kompletten Negierung, alles sei nämlich ganz, ganz fiktional. Hier ist es (wohltuend) anders: Der in all seinem phänomenologischen Surrealismus höchst klarsichtige Erkenntnisliterat und Satzperlengenerator Weinberger analysiert den unter Ängsten, Derealisierungen und Dissoziationen sowie Wahnvorstellungen leidenden Psychiatrie- und Psychotherapiepatienten Weinberger. Doch nicht nur, auch Mitpatienten und Fachpersonal, Mutter und Vater, Exfreundin und Sohn werden schonungslosen Bezichtigungen, Empfindungen und Alpträumen unterworfen, tragen sie doch ihre unbewusste Mitschuld am Schmerz des Wahrnehmungsgestörten. In der Plastik- und Chemiewelt einer Borderline-Station wird – vom Autor herrlich grotesk referiert – in Morgenrunden und Maltherapien aneinander vorbeikommuniziert: »Ich habe gut geschlafen, sage ich, weil ich tot bin. Gratuliere, sagen die Schwester und der Pfleger im Chor.«
Dennoch ist diese Schutzwabe allemal anheimelnder als das feindliche Draußen, wo man seine daueralkoholisierte Mutterhexe vögeln und töten, seinen kindheitsabsenten Vater zumindest erinnern, seine ihm Verantwortungslosigkeit vorwerfende Freundin vergessen und seinen Sohn am Luftabschnüren hindern müsste. Dort hat die Wahrheit bloß ein Auge, die Freiheit kein Gesicht, dort ist die Freiheit eine Sau, herrschen Scham, Schuld und Selbstbestrafung. Wie aber findet man nach allzu früher Entlassung aus diesem Sinn suchenden Irrsinn heraus? Den Weg zur Lastbefreiung des Patienten begleiten die surrealen Niederschriften des Schriftstellers, von Weinberger unnachahmlich absurd-komisch gedrechselte Dialoge mit dem Therapeuten, unsichtbare Psychorealitäten, Auto- und imaginierte Aggressionen, die unnachgiebige Liebe des Kindes – und eine neue sexuelle Beziehung. Wenn da nicht der hyperagitierte Gehzwang wäre …
In trauma- und traumhafter Kunstsprache, die Weinberger in seiner eigenen Liga sukzessive zur höchstmöglichen Vollendung feilt, führt ein malträtiertes Emotions-Tier durch sein Egozentrum, welches ihm die ganze Welt ist – und, bei mangelnder (Selbst-)Liebe, auch die unsere sein könnte.