Ganz schön kalt
Der neue Band der Comic-Reihe »Tonto« widmet sich im weitesten Sinne dem Nordpol. Frostbeulen holt man sich bei der Lektüre trotzdem keine, denn der Nordpol ist überall.
»Tonto« nennt sich die mittlerweile zwölfteilige Reihe von Comic-Heften, die unter variierenden Themen vorwiegend Erzählungen österreichischer Comic-Zeichner präsentiert, aber zunehmend auch immer mehr internationale Beiträge enthält. Das alles in bester Independent-Manier und neuerdings auch in einem superben, ganz neu konzipierten Sonderformat. Dafür wurden zwei Hefte in ein Flex-Wraparound-Cover gelegt, die jeweiligen Innen- und Außencovers ergeben dabei sich fortsetzende Bildsequenzen. Die aktuelle Nummer »Nordpol« ist nach einer in Kollaboration ausgeführten Geschichte von Edda Strobl und Helmut Kaplan benannt. Diese autobiografische Geschichte führt uns allerdings nicht ins nördliche Eis, sondern nach Südamerika, wo sich zwei junge Frauen (Edda und Barbie) gerade auf einem Trip mit unbestimmtem Ausgang befinden. Die Reise hat schon ihre ersten Spuren bei den Protagonistinnen hinterlassen: Sie leiden unter Fieber und einer unvermeidlichen Reiselethargie. So sitzen die beiden orientierungslos in San Pedro La Laguna (Guatemala) inmitten internationaler und nationaler Krisen und mühen sich mit alltäglichen Beschwerlichkeiten ab. Barbies Fieberschübe zwingen schließlich zum Aufbruch nach Norden in andere klimatische Regionen und – in Andeutungen – auch in eine andere Zukunft. Es sind intime Bilder einer Freundschaft, die in langsamer Veränderung begriffen ist. Besonders eindringlich in der Szene zu sehen, in der sich Edda und Barbie von einer ausgelassenen Party im Erdgeschoß in den darüber gelegenen Stock zurückziehen. Die dunkle Wohnung wird mit der Taschenlampe ausgeleuchtet. Als geschlossener Innenraum ist das ein starker Kontrast zu den Reiseeindrücken der offenen Landschaften und durchwehten Hütten Südamerikas. Barbies Blick fällt auf einen Kühlschrank. Sie blickt in ein vereistes Gefrierfach – vielleicht ihr Nordpol? Edda, am anderen Ende des Zimmers, vertieft sich in gefundene Briefe. Etwas zieht die Mädchen langsam auseinander, richtet ihre Leben nach verschiedenen Vorstellungen und Wünschen aus. »Nordpol« bewegt sich erzählerisch zwar hauptsächlich im Konkret-Linearen, dennoch verdichten immer wieder deutungsoffene und symbolische Bilder die Text- und Grafik-Ebene. Der Wechsel zwischen spontan und skizzenhaft wirkenden Zeichnungen und präziser gearbeiteten größeren Panels macht »Nordpol« zu einem sehr abwechslungsreichen Leseerlebnis. Neben Haupterzählung »Nordpol« präsentiert die Anthologie eine Vielzahl weiterer Kurzgeschichten, die sich thematisch-assoziativ leise um diese Hauptgeschichte ranken. Internationale Gastautoren spüren ihren eigenen Echos zu Edda Strobls Erinnerungen nach. Herausragend dabei die Erzählung »Golden« von Simon Häussle, dessen feine und präzise Linienführung entfernt an japanische Kalligrafie erinnert. Häussle entwirft auf wenigen Seiten ein symbolisch aufgeladenes und grafisch wie textlich sehr bestimmt anmutendes Manifest gegen Angst, Schmerz und Krieg, deren Überwindung in der Verbindung zwischen Mensch und Natur gesehen wird. So kann man überleben – egal wo, egal unter welchen Bedingungen. Auch am Nordpol.