Schöpfer vor Gericht
Gott ist tot? Nicht bei Marc-Antoine Mathieu. Der Franzose lässt den Schöpfer auf die Erde herabsteigen. Weil ER an allem Schuld ist, wird ihm dann auch noch der Prozess gemacht. Ein absurd komischer Transzendenz-Bericht.
Mathieu ist durch seinen „Julius Corentin Acquefacques“-Zyklus in der französischen Comic-Szene und darüber hinaus bekannt geworden. Acquefacques bewohnte eine zweidimensionale, schwarzweiße Welt, deren Ursprung unbekannt war. Bis erste Erkundungen angestellt wurden, die zu bemerkenswerten Erkenntnissen führten. Unter anderem wurden nicht unwesentliche Erweiterungen entdeckt: Dreidimensionalität, Farblichkeit und schließlich sogar der „Ursprung“, die Mathieu alle mit originellen Gestaltungstechniken umsetzte (eine 3D-Brille durfte nicht fehlen!). Die Figuren durchbrechen gewissermaßen das für sie vorgesehene Medium und stolpern in eine neue Erfahrungswelt. In spielerischer Weise werden so die Möglichkeiten von Transzendenz erkundet. Das ganze kann dann selbstverständlich leicht als Metapher für unsere „reale“ Welt verstanden werden, die nicht weniger Rätsel aufgibt und vielleicht irgendwann ebenfalls einen Spalt zu einer „Welt dahinter“ öffnet. Mit absurdem Humor widmet sich Mathieu so dem Thema der Transzendenz, des Übersteigens der unmittelbaren Erfahrung.
In „Gott höchstselbst“ führt Mathieu diesen Zugang nun einen Schritt weiter: Gott besucht seine Schöpfung. Er ist (vermeintlich) alt, besitzt (vermeintlich) wallendes Haar und einen wallenden Bart und ist (vermeintlich) männlichen Geschlechts. Er besitzt allerdings keine der Bürokratie dienlichen Identitätsmerkmale und erregt dadurch erste Aufmerksamkeit bei einer Volkszählung. Was dann geschieht, ist bereits Geschichte. Mathieu verwendet eine retrospektive Erzählweise, um die Leser mit immer neuen Situationsdefinitionen zu konfrontieren. Was sich als die schlichte Weitererzählung der Ereignisse anlässt, wird im Seitenumdrehen zu einem Film /über/ diese Ereignisse, der diese medial aufbereitet. Mathieu inszeniert mit diesem Stilmittel die Unnahbarkeit Gottes. Durch diesen und andere, genial umgesetzte narrative und grafische Einfälle wird immer dafür gesorgt, dass Gottes Gesicht, ebenso wie seine eigentlichen Eigenschaften und Motivationen, im Verborgenen bleiben. Doch das ändert nichts am „Faktum“, dass Gott nun Teil der erfahrbaren Welt ist.
Wie wird die Menschheit auf dieses Ereignis reagieren? Mathieu lässt einer erwartbaren Verwunderung eine weniger erwartbare Empörung folgen. Die Menschen realisieren, dass sie nun endlich den Urheber all jener Dinge vor sich haben, die man zuvor dem Schicksal zuschreiben musste. Gott verschuldet die gesamte Problematik des Lebens, insbesondere all die individuellen Unzulänglichkeiten, für die wir uns bisher bei niemandem so richtig beschweren konnten. Die Schuld der Welt wird (wieder einmal) auf die Schultern des alten Mannes geladen, er muss uns ein zweites Mal erlösen. Diesmal haben sich allerdings die Spielregeln geändert: Die Menschheit prozessiert gegen Gott. Die Folge ist ein Gerichtsprozess mit beinah überirdischen Ausmaßen. Bevor aber über Schuld und Unschuld entschieden werden kann, muss geklärt werden, wozu Gott eigentlich im Stande ist und was seine Motivationen sind. Ein heikles Unterfangen, zu dem jede erdenkbare Expertise herangezogen werden muss, nicht zuletzt auch die eines künstlichen Superhirns, in dem das Wissen der gesamten Menschheit gespeichert ist.