Habibi

Mystik der Liebe – Craig Thompson schreibt und zeichnet ein Gedicht über und für Liebe, Liebe als höheres Prinzip. Ein würdiger Nachfolger zu »Blankets«.

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In der Wüste liegt ein Schiff, gestrandet mitten im unbefahrbaren Meer aus Sand. Hier liegt der Anker der Liebe von Dodola und Cham versteckt unter den Dünen. So wie die beiden werden wir dieses Schiff finden, bewohnen und wieder verlassen, es aber nie vergessen. Dodola wird auf dem Altar des Überlebens geopfert, als sie neun Jahre alt ist: Ihr Vater verkauft sie an ihren künftigen Ehemann, um mit dem Geld seine Familie ernähren zu können. Später wird sie sich die Scham und Erniedrigung vergeben, auch ihrem Vater und dem Mann, der ihre Jungfräulichkeit, nicht aber ihre kindliche Unschuld nimmt. Cham ist der Sohn einer dunkelhäutigen Sklavin, vielleicht in Gefangenschaft geboren, zweifellos immer unfrei, bis er Dodola wiederfindet. Sie, die ihm auf dem geheimen Wüstenschiff Mutter und Schwester war und aufgezogen hat, für ihn – zugleich auch für ihre nicht endend wollende Sühne – Opfer brachte. »Habibi« ist die klassischste aller Liebesgeschichten. In ästhetischen Wirbeln an Wort und Bild führt sie uns in die Beziehung zweier Menschen, die sich zum Leben brauchen. Zeitlos, nein, eher zeitfremd umfasst die Erzählung Vergangenheit und Gegenwart eines fiktiven arabischen Raums. Poetisch vereinen sich islamische Tradition, Bibelgeschichte, Alchemie, Sufismus, Okkultes und Esoterisches unter der Feder von Thompson. Tausendundeine Nacht nebst Koran, zentriert um ein verbindendes Element, um das sich auch die Leben der Protagonisten dreht: Liebe. Thompsons Linien sind üppig, lustvoll. Seine Kompositionen bestehen aus sinnlichen Flüssen an Form und Fantasie, für »Habibi« mit den überwältigenden Details arabischer Kalligraphie und Arabesken bereichert. So wie die Sätze in »Habibi« in mehreren Verständniswelten existieren, so eröffnen auch die Bilder verschiedenen Ebenen der An- und Einsicht. Dabei ist aber nie etwas zu tief vergraben oder zu sehr verborgen. Das Liebesgedicht ist erfassbar, nicht nur für Eingeweihte. Craig Thompsons Kindheit in einer fundamentalistisch christlichen Umgebung übt auch auf »Habibi« starken Einfluss aus. Zwar hat er sich scheinbar von tradierter christlicher Doktrin befreit, was auch schon in »Blankets« bemerkbar war, aber in »Habibi«, wo er direkt aus Islam und Sufismus entlehnt, ist Thompsons persönlicher Glaube autonomer. Die Existenz (eines) Gottes setzt er dennoch voraus, diese Überzeugung dominiert. Schlussendlich ist »Habibi« zwar eine unfassbar rührende und anmutige Ode an die Liebe – aber wohl nicht zwischen Menschen, sondern zu Gott. Der Mythos der Mystik der Sufis, von der Liebe zu Gott, die uns zu den bestmöglichen Menschen und unsere Beziehungen zu den reinsten machen kann, dirigiert »Habibi«. Davon kann man nun halten was man will, letzten Endes ist »Habibi« wunderschön und übersteigt sämtliche Erwartungen, die man an Craig Thompson stellen konnte.

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