Das größte Album des Jahres erzählt die Geschichte eines gequälten Helden.
Das Album ist ein Triumph. »Das wichtigste Album des Jahres.« Es gibt immer ein paar, die dann Nein schreien. Aber nichts ist heuer so überall, so unumstritten mit Lob und Jubel überschüttet worden wie das hier. Da fällt es schwer, das fünfte Album von Kanye West unvoreingenommen anzuhören. Die Storyline steht fest und geht wie ein Märchen um die Welt: Die Hauptfigur ist ein Genie, aber auch anders, beides so sehr, dass er von der Welt dafür geliebt und gehasst wird. Der dunkle Ritter reagiert darauf mit immer großartigeren Taten, emotionalen Aussetzern und immer großartigeren Alben, die davon erzählen, wie der Ruhm ihm Kraft und Geld und Macht und Einfluss gibt, aber ihn gleichzeitig auffrisst. Der Joker – er ist das unkontrollierbare Unterbewusstsein, das eigene und das kollektive (auch Gesellschaften haben einen Todestrieb) – will ihn zu Fall bringen. Kanye West ist dieser gequälte Held. Perfekte Helden sind heute uninteressant, nur wenn er also scheitert, verfolgt wird, seine Mutter verliert und immer wieder dagegen ankämpft, zusammen bricht und immer wieder aufsteht, zeigt sie seine wahre Größe. »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« ist genau das.
Zumindest, wenn es nach dem geht, wie es das Feuilleton derzeit erzählt. Die Vermischung von Person und Kunstfigur – das, was die postmoderne Literaturkritik eigentlich einmal abgeschafft hatte – macht nun diesen Popentwurf für viele so interessant. Bei Kanye West scheint sein Leben und seine Kunst schon längst dasselbe zu sein. Sein fünftes Album stülpt alles nach außen, in einem unglaublichen Mix von Stilen und Stargästen. Die Handlung ist fast schon universell, vom Leben und Leiden des reichen Mannes, funktioniert für Mainstream und Alternative, für Gangsters und Glamour Girls. Lady Gaga erzählt eigentlich von ähnlichen Dingen, bei ihr schiebt sich allerdings die gesamte Inszenierung dazwischen, Kanye reißt diese Wand nieder; und er produziert und schreibt sein Material selbst – sogar seinen eigenen, bizarr-großartigen Kurzfilm »Runaway«. Der einzige Nachteil: Kanye ist kein Ausnahme-Rapper und kein guter Sänger. Er kann nerven. Einige Tracks sind langatmig. Und trotzdem: Näher kommen sich Kunst, Pop und Psychoanalyse heuer nicht mehr.