Reise zum Ich – Bei so viel gelebter Europäität hätte Victor Hugo seine Freude gehabt. Und musikalisch? Ein Album wie eine Discokugel: voller Facetten und mit wenig Schwarz und Weiß.
Wer sich nach einer Figur aus einem der umstritteneren Lars von Trier-Filme benennt, der muss … zumindest ein interessanter Mensch sein. Und tatsächlich ist die Exil-Wienerin Tanja Frinta ein wenig wankelmütig, ein wenig rastlos, zieht als Nomadin von Stadt zu Stadt. In Österreich hat sie maximal noch ihren Zweitwohnsitz.
In jüngeren Jahren musizierte Frinta mit der Wiener Riot-Grrrl-Band Holly May. Mit ihrer Übersiedlung nach Schweden erfand sie sich mit dem Soloprojekt Lonely Drifter Karen musikalisch neu. Zwei weitere Umzüge später ist das Domizil Brüssel und Lonely Drifter Karen zum Trio angewachsen: Der Spanier Marc Meliá Sobrevias drückt die Pianotasten und arbeitet an den Arrangements, Schlagzeuger Giorgio Menossi wurde inzwischen vom französischen Gitarristen und Multi-Instrumentalisten Clément Marion auf die Ersatzbank geschickt.
„Authentisch muss Musik für mich sein und eine grundlegende Eigenheit besitzen, Stilrichtungen sind mir dabei ganz egal“, meinte Tanja Frinta einmal in einem Interview. Und authentisch und vielfältig klingt die Band auch auf „Poles“. Die Klangfarbe hat sich von einer überwiegend klavierlastig-akustischen hin zu einer voller analoger Elektronik, geschmeidiger Gitarrenriffs, an alte Science Fiction-Filme erinnernder Synths und – vermutlich China-Tour bedingt –asiatischer Arpeggien („Eyes of a Wolf“) gewandelt. Textlich sind Lonely Drifter Karen dem Reisen verhaftet, sowohl jenem phantastischer („Brand New World“) als auch jenem ganz gewöhnlicher („Rain in Beijing“) Prägung. Tanja Frinta, der man einst die „mädchenhaft spröde Stimme Suzanne Vegas“ attestierte, hat im Vergleich zu den beiden Vorgängeralben ein deutlich volleres und dynamischeres Organ entwickelt. Was „Poles“ aber erst herausragend macht, sind seine Melodien, die sich immer etwas anders in die Ohrschnecke drehen als man denkt, kleine Winks in Richtung Brill Building Pop, unaufdringdliche Exzentrik und instrumentale Einsprengsel, die das Ausdrucksspektrum der Band anreichern. Bei all der musikalischen Dichte driftet „Poles“ jedoch nie in eine undurchdringliche Wuchtigkeit ab, sondern bleibt immer luftig und beschwingt. Und das schaffen so nur wenige.