The Walking Man

Mit allen Sinnen.

Kiro Taniguchi setzt einen starken Kontrapunkt zur überladenen Hektik der Gegenwart und deren Medien. „The Walking Man“ als impressionistische Reise in die wunderschöne Stille unserer Umwelt.

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Ein namenloser Mann, wahrscheinlich ein Stellvertreter für Millionen anderer Japaner, spaziert wortlos durch ruhige und verlassene Straßen eines japanischen Vororts. Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen. Er zieht seine Schuhe und Socken aus, um an einem Baum hinauf zu klettern, in dessen Geäst sich das Spielzeugflugzeug einer Gruppe von Kindern verfangen hat. Nachdem er es ihnen runtergereicht hat, bleibt er wortlos im Baum sitzen und genießt den Anblick. Etwas später, auf dem Weg nach Hause, entdeckt er den Flieger am Straßenrand, zerbrochen und achtlos weggeworfen. Er nimmt ihn mit zu sich, repariert ihn und lässt ihn wieder in die Lüfte steigen.

Diese Sequenz aus Jiro Taniguchis „The Walking Man“ („aruku hito“ lautet der Originaltitel) umschreibt den Grundtenor dieses außergewöhnlich inspirierten und wunderschönen Manga wohl am besten. Taniguchi, seines Zeichens ein gefeierter Star des Manga, der schon an etlichen bedeutenden Projekten mitgearbeitet hat – von diesen haben es auch „The Times of Botchan“ und „Benkei in New York“ nach Europa und in die USA geschafft – betritt mit „The Walking Man“ einen Pfad, der vom kontemporären Manga komplett vernachlässigt wird. Abseits der grellen Welt der meisten anderen Veröffentlichungen, sucht Taniguchi die Erfahrung wieder näher an das Individuum zu bringen. Und die Erfahrung, die er vermitteln möchte, ist nahe liegend schlechthin: nämlich die unserer eigenen, unmittelbaren Umgebung. Wie oft gehen wir durch Straßen ohne sie wirklich wahrzunehmen? Wann nehmen wir uns die Zeit, den einfachsten Kontakt zu unseren Mitmenschen zu fördern? Warum wollen wir die Natur um uns herum vertreiben, anstatt sie zu umarmen und spüren? Diese Fragen stellt Taniguchi – der namenlose Mann, in einem namenlosen Städtchen in Japan, auch er hat keine Antwort darauf, aber er führt vor, wie man es machen könnte. Mit allen Sinnen versucht er stellvertretend für viele andere, das Wunder des Lebens wieder zu erfassen. Er greift mit bloßer Hand alles an, staunt über die Sterne, bewundert die einzigartige Atmosphäre eines Flusses inmitten einer Stadt. Er hat keine Scheu davor seiner kindlichen Natur freien Lauf zu lassen, spielt mit einem Papierballon auf offener Strasse. Seine zerbrochene Brille sieht er als Gelegenheit die Dinge mit neuen Augen zu betrachten. Sogar als er spät abends Heim kehrt, müde und vielleicht auch leicht beduselt von einem Drink mit Kollegen, und seinen Schlüssel nicht finden kann, geht er spazieren, anstatt seine Frau zu wecken. Er marschiert durch die Nacht, bis er zu einer Feuertreppe gelangt. Eine Feuertreppe aus kaltem Stahl, die unangenehme Geräusche macht, als er sie betritt. Er rennt sie hinauf, lässt sie hinter sich und schläft auf dem Dach des Hauses ein als die Sonne über der Stadt aufgeht.

Beinahe wortlos schreitet „The Walking Man“ durch eine von Taniguchi mit etlichen Details versehene Umgebung. Taniguchi wählt ein bedachtes Tempo, teilweise scheint es so, als ob die Zeit zwischen zwei Panels stehen bliebe. Allein schon beim oberflächlichen durchblättern spürt man die friedliche, introspektive Aura, die von den Zeichnungen ausgeht. Zu einem Zeitpunkt wo viele Menschen mit Informationsflut nicht mehr umgehen können, gerade aus einem Medium, das seit je her mit Überzeichnung und schrillen Charakteren gearbeitet hat, ist Jiro Taniguchis „The Walking Man“ wie Balsam für eine wunde Seele. (10/10) Nureddin Nurbachsch

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