Rewind: Bangers

Liebe auf die erste Kick? Fehlanzeige. Das dritte Album von Vitalic benötigt Zeit, will verstanden und in Kontext gesetzt werden.

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"Auf seinem aktuellen und dritten Studioalbum Rave Age trotzt Vitalic einmal mehr den Einflüssen des alles verschluckenden musikalischen Mainstreams und stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass die verheerende Buchstabenkombination EDM in seinem Wortschatz nicht mal ansatzweise existiert". In einer besseren Welt würde dieses Review wohl mit diesem Satz beginnen – weil wir aber in einer schlechten und von Grund auf bösen Welt leben ist die Sache leider nicht ganz so einfach.

Der flüchtige Erstkontakt mit Rave Age wird langjährige Fans wohl enttäuscht und traumatisiert zurücklassen: prominent platzierte Vocals dominieren fünf der zwölf Tracks, und bereits die ersten beiden Titel Rave Kids Go und Stamina lassen deutlich erkennen, dass hier nicht Clubs sondern Festivalbühnen als Maßstab angelegt wurden. Vocals, Aufbau, Drop, Hände in die Höhe.

Und dann Fade Away, der dritte Track des Albums. Zack, Gänsehaut. Joe Reeves von Shitdisco singt um sein Leben. Lauter drehen. Dieses seltene, unglaubliche Gefühl, sich bereits nach wenigen Sekunden eines Songs zu wünschen, er würde nie enden. Noch lauter. Ohne Zweifel ein Schlüsseltrack – der Schlüssel zum Album? Plötzlich fällt es wie Schuppen von den Augen: Rave Age muss im Gegensatz zu den ersten beiden Alben unter eine völlig andere, aus dem Zeitgeist heraus zu verstehende Prämisse gestellt werden. Es handelt sich um Vitalic’s ganz persönliche, subjektive Aufarbeitung des "Rave Age", des Zeitalters in dem elektronische Tanzmusik erstmals den Sprung aus den Clubs geschafft hat und zum Massenphänomen explodiert ist.

Rewind

Mit dieser Erkenntnis geht es zurück an den Start, Rewind zum ersten Track. Und nun ist sie plötzlich wieder da, diese mitreißende Euphorie, die Vitalic auf den ersten beiden Alben perfektioniert hat und die man auf Rave Age anfangs schmerzlich vermisst: Moll statt Dur, Gänsehaut statt Ekstase. Großes Gefühlskino. "Machines are designed to do whatever you want them to do." antwortet Vitalic auf die Frage, wie man mit Computern und Synthesizern Emotionen transportieren kann.


Turbulent geht es weiter: Vigipirate, Track vier. Hatte hier Mr Oizo seine Finger im Spiel? Wohl kaum, klingt aber trotzdem so: ein Track, den man in dieser Form eher auf einem Konzeptalbum vermuten würde. Dann wieder Vocals: Under Your Sun, eine makellose Popproduktion, nur einen obligatorischen Mollakkord vom Ohrwurm entfernt. Sich derartig vom eigenen Stil zu entfernen und dennoch eine klare, sofort hörbare künstlerische Handschrift zu bewahren schaffen nicht Viele.

Der nächste Banger, No More Sleep: hier werden wieder schwere Geschütze aufgefahren, und wieder schlägt Vitalic’s Markenzeichen-Sound trotzdem durch. Anhand dieses Titels ließe sich wohl das ganze Album beschreiben: Big Room Rave Sound, groß genug um Hallen zu füllen – musikalisch aufgearbeitet und neu interpretiert allerdings, wie ein meisterhafter Break beweist, der den tosenden Synths für die kurze Ruhe vor dem erneuten Sturm mühelos den Wind aus den Segeln nimmt.

Zur Halbzeit: Nexus, der längste Track auf Rave Age. Auf einer Länge von 5 Minuten und 12 Sekunden zeigt Vitalic hier, dass er auch anders kann, und zwar ganz anders. New Age statt Rave Age. Großmeister Jean-Michel Jarre wäre stolz: atmosphärische Klanglandschaften, verträumte Streicherarrangements und meilenbreiter Raumklang. Im Anschluss macht sich orientalisch anmutende Endzeitstimmung breit: mit treibenden Trommelrhythmen, fernöstlichen Harmonien und donnernden Kriegshörnern zaubert The March Of Skabah Bilder von Krieg und Zerstörung – fast schon spürt man die Hitze, fühlt man den knirschenden Sand zwischen den Zähnen.

Bekenntnisse zu French House und Hommagen an Italo Disco (Lucky Star), französischer Electro Pop à la Yelle (La Mort Sur Le Dance Floor) und britischer Electro Pop (Next I’m Ready, wieder mit Shitdisco Vocals) – Langeweile kommt auf Rave Age nie auf. Einziger Wermutstropfen ist der letzte Titel "The Legend Of Kaspar Hauser", bei dem es sich leider nicht wie erwartet um die geniale Titelmelodie des gleichnamigen Films von Davide Manuli handelt (für den Vitalic den Soundtrack produziert hat), sondern vielmehr um ein abstraktes, zwischen Industrial, Trip Hop und Dark Wave schwankendes Gesamtkunstwerk.

Liebe auf die erste Kick? Mit Sicherheit nicht. Dieses Album benötigt Zeit, will verstanden und in Kontext gesetzt werden. Eine kurzweilige Ansammlung scheinbar zufällig zusammengewürfelter Tracks, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt, und vieles dennoch offen lässt. Eines ist jedoch klar: Rave Age wird polarisieren.

"Rave Age" von Vitalic erscheint am 5. November via Pias.

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