Selbst ausdenken

Das Galerienfestival curated_by beschäftigt sich heuer mit Fragen nach künstlerischen Traditionslinien. Der Kulturwissenschaftler Diedrich Diedrichsen lieferte mit seinem Text "Meine Herkunft habe ich mir selbst ausgedacht" den Impuls für die KuratorInnen. Ein Gespräch über Erbe, Vorbilder und das Neue in der Kunst.

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Curated_by, das Galerienfestival der Wirtschaftsagentur, geht heuer auch schon in die achte Runde. Die jüngere, seit 2014 bestehende Traditon des impulsgebenden Textes für die KuratorInnen wird auch dieses Jahr fortgeführt. Mit dem Stichwort "Tradition" sind wir auch schon bei dessen Thema. Nach Beatriz Colominas "Century of the Bed" (2014) und Armen Avanessians "Tomorrow Today" (2015) beschäftigt sich Kulturtheoretiker, Journalist und Autor Diedrich Diedrichsen heuer in seinem Text "Meine Herkunft habe ich mir selbst ausgedacht" mit dem Kappen von Traditionslinien auf der einen und Hommagen auf der anderen Seite. Wir sprachen mit ihm anhand seines Textes über die Bedeutung des Vatermords in der bildenden Kunst, die Sehnsucht nach einer heroischeren Zeit und was passiert, wenn man zu lange im eigenen Saft schmort.

Sie sprechen in Ihrem impulsgebenden Text für Curated By "Meine Herkunft habe ich mir selbst ausgedacht" unter anderem das Thema des Künstlers als Kurator an und erwähnen auch neue Handlungsmöglichkeiten, die sich dabei ergeben.

Wir kennen das ja schon seit einigen Jahrzehnten, dass es einzelne Künstler, Künstlerinnen gibt, die ihre eigene Arbeit in den Zusammenhang mit der Arbeit anderer stellen, also gewissermaßen kuratieren. Sehr oft ist dieses Kuratieren mit einer bestimmten Geste, nämlich gewisse Vorläuferschaften für sich zu reklamieren, verbunden. Martin Prinzhorn hat sehr früh einen Text mit dem Titel "Der Künstler als Kurator" geschrieben, der sich auf Kippenberger bezog. Der hatte in den späten 80ern, frühen 90ern immer wieder Ausstellungen kuratiert, in denen er selbst auftauchte, aber auch den Zusammenhang für diese eigenen Ausstellungen herstellte. Insofern ist diese Praxis, dass Künstler – wie Kuratoren es tun – Zusammenhänge herstellen, etwas, dass dem Begehren, sich Vorfahren zu erschaffen sehr entgegenkommt. Für mich sind das Musterbeispiel Leute, die dann noch mehr tun als zu kuratieren. Die Essays schreiben, wie zum Beispiel Mike Kelley, der eine ganze Reihe über seiner Meinung nach vernachlässigte Künstler und Künstlerinnen der 1960er Jahre wie Öyvind Fahlström oder Peter Saul geschrieben hat und sie damit gleichzeitig als seine Vorbilder kenntlich machte. Er schrieb sich quasi einen ganzen Vorläuferschaftskanon zusammen. Aber das machen mittlerweile auch viele andere.

Womit Künstler ja ihre eigene Rezeption lenken oder es zumindest versuchen.

Das tun sie ja schon eine ganze Weile. Seit die Vorgaben der Rezeption nicht mehr durch irgendwelche Traditionen gesichert sind, ist es ein Bestandteil der künstlerischen Aufgaben geworden, die Rezeption mitzugestalten, die Rahmung der eigenen Kunst mitzudenken.

Bemerkt man das Thema des Vatermords – also den Bruch mit einer künstlerischen Vater, Mutter oder Meisterfigur –, das Sie in ihrem Text ansprechen, auch in anderen Kunstformen außer der bildenden? Gibt es zum Beispiel in der Musik oder der Literatur Parallelen?

Ich finde, es ist schon hauptsächlich ein Thema der bildenden Kunst.

Zum einen, weil bildende Kunst die mit Abstand personenfixiertesten Ausbildungsstrukturen hat. Wenn ich Film studiere, sind da zwar auch andere Filmemacher, bei denen ich studieren kann, doch lerne ich eher Techniken und künstlerische Handreichungen von ihnen. Ich versuche nicht, so zu sein wie sie – oder eben genau nicht so zu sein wie sie. Das ist in der bildenden Kunst anders. Es gibt zwar auch in anderen Künsten immer charismatische Lehrende oder irgendwelche Künstler, die um sich herum Schüler scharen, aber dass es der Regelfall ist, dass – wenn ich Kunst studiere – ich mich erst mal mit den Verrücktheiten, Marotten und psychischen Zuständen einer lehrenden Person auseinanderzusetzen habe, die mich entweder lieben oder hassen muss und so weiter – diese ganze Engführung des Künstlerischen und des Persönlichen, ist schon ein spezielles Thema und Problem der bildenden Kunst.

Ein weiterer Grund ist, dass die bildende Kunst ein geringeres Repertoire an Selbstverständlichkeiten hat. Also, es ist geradezu das Thema der bildenden Kunst der letzten 50 Jahre, dass sie ihre Selbstverständlichkeiten immerzu schaffen muss. Was normalerweise im Hintergrund läuft – sich als Künstler einem bestimmten Genre oder einer Technik zuzuordnen zum Beispiel – und normalerweise dafür sorgt, dass die ganze Frage der Tradition Ruhe hat, gibt es in der bildenden Kunst immer weniger. Deswegen ist hier die Beschäftigung damit, wie man mit Vorläuferschaften, Lehre, Herkunft oder Vermittlung umgeht, viel massiver als bei Film und Musik.

Aber gerade in Wien – wenn man sich zum Beispiel Haneke im Filmbereich ansieht – ist das doch ähnlich. Da arbeiten sich die Studenten doch auch sehr an ihm ab.

Es ist aber etwas anderes, ob jemand in Mode ist oder auch einfach so gut ist, dass man nicht um ihn herumkommt – wie auch immer man das im Fall Haneke nun erklären will –, oder ob es daran liegt, dass die Institution so personenfixiert organisiert ist, dass es gar nicht anders geht. Man hat ja in der bildenden Kunst keine andere Wahl als sich mit Lehrenden auseinanderzusetzen. Wenn ich in einer anderen Kunst tätig werde, kann ich das sehr gut umgehen. Die Psyche der Leute kann mir völlig egal sein.

Wie ist das in ihrer eigenen Unterrichtserfahrung. Haben sie das Gefühl, dass die Studierenden dieses Modell – sich an jemandem so abarbeiten zu können – überhaupt wollen?

Zum Glück bin ich kein künstlerisch Lehrender, also muss ich niemandes Vorbild sein und ich muss mich auch nicht ermorden lassen. Innerhalb der Kunstakademie ist es in der wissenschaftlichen oder theoretischen Lehre natürlich etwas entspannter. Ich sehe aber das beschriebene Problem: Viele Studierende beklagen sich darüber, andere Studierende lieben das. Ich sehe es auch bei meinen künstlerisch lehrenden Kollegen und Kolleginnen. Viele haben ein Problem damit und viele nicht – es ist aber immer ein Thema. Es gab auch vor 15, 20 Jahren in den Kunstakademien des deutschsprachigen Raumes Diskussionen darüber, ob man das System ändern sollte. Das ist aber nicht passiert und zwar nicht, weil diese Hochschule alle so traditionell wären, sondern weil es auch die Studierenden nicht wollten. In der Regel will die Mehrheit dieses Meisterklassen-System.

Viele andere Dinge dagegen haben sich durchsetzen lassen. Es hat sich durchsetzen lassen, dass mehr Theorie an der Hochschule stattfindet. Es hat sich durchsetzen lassen, dass neue Fächer wie Queer Studies oder Gender Studies an der Hochschule eingeführt werden. Die Abschaffung der Meisterklassen hat sich aber nicht durchsetzten lassen. Leider.

Wodurch ließe sich dieses System ersetzen, gibt es dazu Ideen?

Ja, gibt es. Und es gibt auch eine ausgesprochen sinnvolle Praxis. Und das ist das amerikanische System. Dort habe ich eine kleine Studiozelle auf dem Campus, in der ich arbeite. Ich bin nicht in einem großen Atelier mit 40 anderen. Ich empfange die Lehrenden zu Studio-Visits. Das passiert vielleicht nicht so häufig wie ein Klassentreffen, dafür ist es dann auch sehr viel intensiver. Diese Praxis schließt nicht nur die hauptamtlich Lehrenden ein, sondern auch Leute, die zu Gast sind oder einen Vortrag halten und so weiter. Auf diese Weise habe ich mit sehr viel mehr Leuten das, was man auch bei uns künstlerischen Einzelunterricht nennt. Man ist dann nicht mehr so auf eine Person fixiert. Das ist ein sehr viel sachlicheres und anregenderes Verfahren als diese großen Klassen, die von einer Person geleitet werden.

Was sie in Ihrem Text feststellen ist unter anderem auch, dass sich das Umfeld von Künstlern ändert, insofern dass die heutigen Künstler oft Kinder von Künstlern sind.

An dieser Stelle meines Textes wandert ja die Problemstellung vom Künstlerisch-Ideellen zum Ökonomischen – das Wort Erbe steht ja über beidem. Hier handelt es sich dann plötzliche um ein Erbe, das ökonomische und kulturelle Dinge mit einander vermischt. Besonders häufig sieht man das in Galerien und an den Galeristen in zweiter Generation. Die ganzen großen Avantgarde- und Moderne-Galerien haben alle Generationenwechsel hinter sich. Da erbt das mal der eigene Sohn, die eigene Tochter oder mal auch jemand ganz anderes – jedenfalls ist es eine Person, die aus dem Umfeld kommt. Sehr oft hat man aber auch den Fall: Sohn des Künstlers wird Galerist und Tochter eines Künstlers wird wieder Künstlerin, was damit zu tun hat, dass es zwischen den Leuten, die in den 60ern, 70ern aktiv geworden sind, und ihren Kindern keine großen Traditionsbrüche gegeben hat. Die Values, mit denen man damals erfolgreich war, sind im Grunde genommen immer noch unsere Values. Man kann also arbeiten, ohne sich von den Eltern trennen zu müssen – denn man muss ja nicht sagen: "Was für widerliche Nazis waren die." Nein, unsere Eltern waren ja liebe Hippies – also was soll’s. Das ist auffällig.

Was anderes ist, dass diese ganze friedliche Übergabe von kulturellem Kapital und auch die Vermehrung davon, in einer Einigelung und Exklusion dieser Kunstwelt resultieren. Es sind zwar sehr viel mehr Akteure involviert, aber die Gebundenheit an ökonomische Macht ist größer. Insofern ist der Zutritt für diejenigen, die nicht aus dieser Welt kommen, nicht mehr ohne Weiteres zu haben. Wenn man sich meine Generation anschaut, also die dazwischenliegende, die in den 80ern, 90ern etwas gemacht hat, dann gab es da noch unglaublich viele Quereinsteiger. Also ganz viele Leute, die im Kunstbetrieb irgendetwas waren, die davor aber mit Gemüse gehandelt haben oder Punks waren oder sonst was. Die hatten keine Kunstausbildung und keinerlei Verbindung zu diesen Herkunftsmilieus.

Was bedeutet das für die Kunst, die dann von diesen Menschen geschaffen wird?

Dass wir uns heute in einer Blase von zwar immer aufgeklärten, geschmackvollen und wohlgenährten, aber doch auch ökonomisch-kulturell homogenen Menschen befinden. Dass es geschlossene Gesellschaften gibt, bedeutet natürlich für die Kunst irgendwann eine Verarmung. Auf der anderen Seite haben wir durch eine so globalisierte Ökonomie sehr viele Strukturen, die dafür sorgen, dass dann doch immer was Neues zu passieren scheint. Diese lokalen, medialen oder anderweitig ausgewiesenen Neuheiten sorgen dafür, dass man nicht merkt, dass man sozial weiterhin im eigenen Saft schmort.

Sie sprechen in ihrem Text davon, dass junge KünstlerInnen heute gern einen Großvater, eine Großmutter erfinden, weil diese aus einer Zeit stammen, die den heutigen jungen KünstlerInnen heroischer scheint. Warum tut sie das?

Ein Grund ist, dass bis in die 50er und 60er Jahre hinein das generelle Kommunikationstemperament der Leute im Kunstbereich viel mehr Pathos hatte als heute. Die Welt bis 1950 war so voller Pathos, so unironisch, unlakonisch, uncool, dass man sich in einer nun massiv ironischen, lakonischen und massiv coolen Kultur da gerne was holt. Und dieses Pathos von früher kommt als heroisch rüber. Es kommt so rüber, als wäre damals intensiver gelebt worden.

Glauben Menschen eigentlich noch daran, irgendetwas Neues schaffen zu können, oder ist der Gedanke allein völlig unvorstellbar geworden?

Auf einer gewissen Ebene glauben das alle, denn die Art und Weise, in der sie nichts Neues machen, ist eine neue Art und Weise, nichts Neues zu machen. Der Neuheitsanspruch ist daher nicht so total, aber deswegen ist er nicht weniger ein Neuheitsanspruch.

Aber wenn man danach fragt, ob es irgendwo noch jemanden gibt, der einen Neuheitsanspruch ohne "aber" formuliert, würde das natürlich in einem so skeptischen Milieu sofort auf Verdacht stoßen. Dazu müsste ja jemand wirklich glauben, er könne, sie könne bei Null anfangen und ohne Geschichte arbeiten. Würde das jemand versuchen, würde die begleitende Welt denken: Geht’s noch?

Dritte Antwort: Was es natürlich immer wieder gibt, sind durch außerkünstlerische Entwicklungen auftretende Neuartigkeiten. Zum einen sind das technologiebedingte Geschichten. An den Konsequenzen von Internetkultur auf bildende Kunst ist natürlich noch nicht genug gearbeitet worden – trotz aller gegenteiliger Bekundungen und Labels wie Post-Internet-Art. Das andere ist die Analyse der politischen Gegebenheiten. Ein Objekt, das ohne Kontext alt wäre, kann unter neuen politischen Gegebenheiten etwas Neues sein. Es wird zwar seit 50 Jahren massiv am Begriff der politischen Kunst geschraubt, aber mit mehr oder weniger gleichen Begriffen – obwohl sich die Verhältnisse ja total verändert haben.

Diedrich Diedrichsen ist einer der wichtigsten, bekanntesten und thematisch versatilsten Kulturtheoretiker im deutschsprachigen Raum. 2014 erschien sein bisheriges Opus Magnum "Über Pop-Musik" bei Kiepenheuer & Witsch. Diedrichsen unterrichtet unter anderem an der Akademie der Bildenden Künste in Wien.

Das Galerienfestival der Wirtschaftsagentur curated_by dauert noch bis 15. Oktober und ist auch auf der Vienna Contemporary mit einem Stand vertreten. Dort wird am 24. September es auch einen Talk mit Diedrich Diedrichsen zum diesjährigen Thema geben. In den 19 bei curated_by teilnehmenden Galerien werden kostenlose Führungen angeboten.

Bild(er) © 1-4: curated_by/privat, 5-8: esel
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