Tiktok und Mental Health – Wie Social Media unsere mentale Gesundheit beeinflussen

Es scheint paradox, dass sich gerade jene Plattformen, die uns ein vermeintlich perfektes Leben vorleben, allzu oft negativ auf unsere Psyche auswirken. Doch seit einiger Zeit bekommen psychische Erkrankungen in den sozialen Netzwerken vermehrte Aufmerksamkeit. Ob Borderline, Depressionen oder ADHS/ADS: Zu fast jedem Krankheitsbild gibt es mittlerweile Sharepics und Tiktoks. Wiegt diese neue Sichtbarmachung die negativen Effekte von Social Media auf?

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Satte 39 Prozent aller Österreicher*innen leiden oder litten schon unter einer psychischen Erkrankung. Das ergab eine Befragung im Auftrag des Berufs­verbands Öster­reichischer Psycho­logInnen (BÖP) aus dem Jahr 2020. Betroffene sind damit also alles andere als alleine. Es ist wichtig, sich das zu vergegenwärtigen, denn über Angst­störungen, Depressionen, ADHS/ADS, Schlaf­störungen oder Sucht­erkrankungen zu sprechen, ist oft tabu. Dabei können sie bei Betroffenen und Angehörigen für großes Leid sorgen. Unter diesen Umständen ist ein geregelter Lebens­ablauf nur bedingt möglich, nicht umsonst zählen psychische Erkrankungen zu den häufigsten Gründen für Fehlzeiten. Bei Jugendlichen sind Suizide gar eine der häufigsten Todes­ursachen.

Im Schatten der Pandemie

Wie schlecht es um die psychische Gesundheit der Jugend bestellt ist, zeigt die Studie »Health Behaviour in School-aged Children«, deren Daten 2021/22 im Schatten der Pandemie erhoben wurden. Sie besagt, dass im Zeitraum der letzten zwölf Jahre Beschwerden wie Gereiztheit, Nervosität, Nieder­geschlagenheit oder Schlaf­schwierig­keiten deutlich anstiegen. Fühlten sich 2010 noch weniger als zehn Prozent nieder­geschlagen, sind es 2022 über 20 Prozent. Und auch der Anteil jener Schüler*innen, die sich im Alltag gereizt fühlen, verdoppelte sich: auf 35 Prozent.

Seit 2018 ist in dieser Erhebung Handynutzung auch ein Thema. Rund neun Prozent der Jugend­lichen weisen starke Anzeichen für »problema­tische Nutzung« sozialer Medien auf, bereits jede*r zweite Jugend­liche zeigt leichte bis mittelstarke Anzeichen. Die Studie assoziiert »problema­tische Nutzung« mit Abhängigkeits­symptomen und zieht eine Verbindung zu anderen gesund­heitlichen – insbesondere psychischen – Problemen.

Inwiefern sich diese Zahlen in den letzten Jahren wieder verändert haben, ist schwer zu eruieren. Brigitte Sindelar, die das Sindelar Center leitet und an der Sigmund-Freud-Uni forscht, berichtet jedenfalls von einem »massiv erhöhten Bedarf an psycho­therapeutischer und klinisch-psycho­logischer Hilfe­stellung«, worauf mit einer Verdoppelung der Kapazitäten in Wien reagiert worden sei.

Nicht nur online ist toxisch

Tobias Dienlin von der Uni Wien beschäftigt sich mit der Thematik, wie soziale Medien unser Wohl­befinden beeinflussen. Auf die Frage, ob diese nun gut oder schlecht für Menschen sind, gebe es keine eindeutige Antwort aus der Wissen­schaft: »Man kann leider nicht einfach einen Mittelwert für Online- oder Offline­kommunikation bestimmen.« Es gebe auch offline toxische Beziehungen und außerdem verschiedene Nutzungs­arten von Online­kommunikation, so Dienlin. »Pauschal gesprochen, haben soziale Medien einen kleinen negativen Effekt. Zwar können Menschen, denen es bereits gut geht, eher ihre Stärken über soziale Medien ausbauen. Denjenigen, denen es eh schon schlechter geht und die beispiels­weise Schwierig­keiten bei der Impuls­kontrolle zeigen, tun soziale Medien allerdings nicht gut.«

Wie zweischneidig soziale Medien sind, veranschaulicht auch das Phänomen der Influencer*innen: Für die einen können sie als positive Inspiration dienen, für die anderen werden sie zum unerreich­baren Ideal. Dass Inhalte über psychische Erkrankungen im Trend liegen, sieht Dienlin verhalten positiv: »Was ich wirklich positiv und als schönen Teil von Social Media empfinde, ist, wie dort zur Destigma­tisierung beigetragen wird. Dennoch gibt es auch Kehrseiten: So kommt es zu einem ›washing‹, bei dem es fast schon schick wird, wenn man eine Diagnose als Label vor sich hertragen kann. Aber natürlich haben nicht alle, denen es eine Woche schlecht geht, eine Depression und nicht alle, die Depressionen hatten, sind automatisch Expert*innen.«

Borderline laut Internet

Christiane Eichenberg von der Sigmund Freud Privat­universität Wien setzt sich damit auseinander, wie neue Medien die psycho­therapeutische Praxis beeinflussen. Ihr Urteil klingt ähnlich: »Der Einfluss sozialer Medien auf die Wahr­nehmung psychischer Erkrankungen und die Effekte auf die Einzelnen sind komplex und können positiv, aber auch negativ sein. Neben positiven Effekten wie der Enttabu­isierung der Krankheiten und dem Durch­brechen der sozialen Isolation der Betroffenen, sehen wir auch, dass Betroffene vermehrt zur Psycho­therapie ermutigt werden.«

Gleichzeitig bringe die erhöhte Aufmerk­samkeit für psychische Krankheiten die Gefahr von unsensiblen bis diffamierenden Kommentaren mit sich, was den positiven Effekten entgegenstehe, so Eichenberg. Zudem verstärke sich auch das Risiko von fehler­haften Selbst­diagnosen: »Betroffene holen sich dann keine Hilfe oder sie gehen in eine Psycho­therapie­praxis und meinen, sie hätten Borderline, weil es ihnen das Internet so gesagt habe.«

Videoblogging werde für die Betroffenen von psychischen Erkrankungen aber durchaus positive Effekte zugeschrieben. Eichenberg: »Hier kamen Forscher*innen 2019 zum Schluss, dass es die Genesung der Erkrankten fördert, indem es Unter­stützung durch Betroffene und Interessierte bietet, die sich über die Kommentar­funktion äußern.«

Wissentlich schadhaft

Die negativen Auswirkungen von Instagram und Co auf Heran­wachsende bestätigt hingegen eine geleakte interne Studie des Facebook-Konzerns Meta: Bei 32 Prozent der Mädchen im Teenager­alter verstärke Instagram bestehende Verun­sicherungen, was den eigenen Körper betrifft, so die firmen­eigene Präsentation. Weiters würden Teenager die Schuld für zunehmende Angst­störungen und Depressionen bei Instagram sehen – manche sogar für Suizid­gedanken. Wie repräsentativ und robust diese Erhebungen waren, ist strittig. Jedenfalls wurde die weitere Entwicklung einer eigenen App für Kinder unter 13 nach großem Aufruhr eingestellt.

Golli Marboe setzt sich mit dem Verein zur Förderung eines selbst­bestimmten Umgangs mit Medien (VSUM) unter anderem für Medien­kompetenz bei Jugend­lichen ein, etwa in Bezug auf das eigene Körperbild. Durch den Selbstmord seines Sohnes hat er ein besonderes Bewusstsein für die psychische Gesundheit von Jugendlichen. »Gerade bei Menschen, die sich noch in ihrem Leben orientieren und einen Platz suchen, ist es wichtig, Resilienz und Vertrauen zu fördern. Oft sollen wir einen Schein waren und perfekt sein, aber wir bekommen nicht beigebracht, wie man damit umgeht, wenn die Mutter ein Alkohol­problem hat oder in der Schule jemand gemobbt wird«, so Marboe. »Was wir übersehen, ist, dass sich Betroffene aus dem sozialen Umfeld zurückziehen, aber weiter Medien – klassische und soziale – konsumieren. Es wäre daher absurd, nicht zu versuchen, auch diese Leute zu erreichen.«

Marboe plädiert daher auch dafür, von der reinen Vermeidung des »Werther-Effekts« – der Nachahmung von Suizid ausgelöst durch Bericht­erstattung – wegzukommen und in den Medien im Sinne des »Papageno-Effekts« Wege aus der Krise aufzuzeigen. »Wichtig ist, dass die drei Papageno-Botschaften transportiert werden. Erstens: die Über­windung von Krisen. Zweitens: Hinter­bliebene sollen zu Wort kommen, denn diese finden sich hinterher oft in ähnlichen Krisen wie Betroffene. Drittens: einen Umgang mit Gefühlen aufzeigen«, so Marboe. Um dieses Ansinnen zu unterstützen, wird seit 2019 in Österreich auch der Papageno-Medienpreis für suizidpräventive Bericht­erstattung vergeben.

Reflektierter Umgang

Mit Mental Health Days an Schulen setzt der Verein VSUM rund um Golli Marboe auch direkt bei Jugend­lichen an und liefert ein gutes Beispiel, wie man die Situation verbessern kann. Tobias Dienlin rät trotzdem nicht völlig von sozialen Medien ab: »Social Media führt schon oft auch zur Verbesserung der sozialen Einbindung. Erkrankte können sich mit anderen Betroffenen vernetzen. Es ist aber wichtig, seinen Umgang mit sozialen Medien zu reflektieren und Acht­samkeit an den Tag zu legen.«

Es scheint auf der Hand zu liegen, sollte aber hier trotzdem noch einmal explizit gesagt werden: Niemand ist schuld an seiner eigenen psychischen Erkrankung. Neben genetischen Faktoren sind auch immer soziale und Umwelt­komponenten für das psychische Befinden wesentlich. Ein komplexes Netz an Aspekten, das kaum einfache Erklärungs­modelle zulässt. Aufklärung allein kann daher auch keine psychischen Erkrankungen verhindern. Mit einer verbesserten gesundheitlichen Unterstützung und verbesserten psycho­therapeutischen Versorgung könnte jedoch vielen Betroffenen geholfen werden. Schließlich sollte niemand im Umgang mit Krisen­situationen und psychischen Erkrankungen auf sich allein gestellt sein. Die eingangs zitierte Befragung im Auftrag des BÖP kam jedoch zum Schluss, dass die Versorgungs­situation für Menschen mit psychischen Erkrankungen unbefriedigend ist: 65 Prozent gaben hier an, dass sie sich eine notwendige psychologische Behandlung nicht leisten könnten. Hier wäre dringend Nach­besserung durch die Gesetzgeber*innen nötig.

Bei akuten Krisen gibt es viele Anlaufstellen, die Betroffenen und Angehörigen zur Seite stehen: Kinder und Jugendliche können sich an Rat auf Draht wenden – unter rataufdraht.at oder der Telefon­nummer 147. Weitere Anlauf­stellen sind bittelebe.at sowie der Kindernotruf unter 0800 / 567 567. Bei all­gemeinen psychischen Notlagen helfen das Krisen­interventions­zentrum unter 01 / 406 95 95, der Sozial­psychiatrische Notdienst unter 01 / 313 30 oder etwa der Männer­notruf unter 0800 / 400 777.

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