Bürokratische Hürden statt schneller Kampagnen – Die Vernachlässigung der Affenpocken

Noch während Expert*innen von den Corona-Entwicklungen der kälteren Jahres­zeiten warnen, schauten die Gesundheits­behörden der Verbreitung der Affenpocken lange tatenlos zu. Denn: Die Krankheit betrifft mehrheitlich homo­sexuelle Männer. Was man über die Krankheit wissen muss, wie man sich schützen kann und wo nun rasches Handeln gefragt ist.

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»Ich wünsche es niemandem! Es ist wirklich schmerzhaft und unangenehm«, erzählt Stefan (vollständiger Name der Redaktion bekannt) von seiner vergangenen Affenpocken-Infektion. Zusammen mit seinem damaligen Partner traf er an einem Freitag im Juni ein anderes Paar auf ein Date, sie hatten Sex und waren am nächsten Tag mit einer großen Gruppe auf der Pride-Parade in Wien. Eine Woche später hatte er die ersten Symptome: »Wir dachten beide, es wäre bloß ein Sonnenstich. Ich hatte schlimmen Schüttelfrost, weswegen ich mich krankmeldete. Erst später entdeckte ich pickelartige Haut­veränderungen, die sich später als Pocken herausstellten.« Es waren nur vier Pusteln, aber eine war im Gesäß, die sehr schmerzte. Dabei hatte Stefan als jemand, der noch gegen Pocken geimpft worden war, Glück: Sein Verlauf war schwächer als der seines Partners, der zeitgleich erkrankte.

Gerald Van der Hint, DJ und Veranstalter der Clubreihe Meat Market, einer hauptsächlich schwulen Techno-Party mit Dark­room, kennt Geschichten von »Leuten, die zu Hause die Wand anschreien und ihr Leben vor Schmerzen nicht mehr packen.« Affenpocken werden zwar im Vergleich zu sogenannten »echten Pocken« als mild eingestuft, das bezieht sich aber in erster Linie auf die damit verbundene Sterblichkeit.

Gerald Van der Hint, Techno-Veranstalter (Foto © Markus Thums)

Kurz nachdem Berichte über Affenpocken in Italien und England aufgekommen waren, erfuhr Van der Hint von ersten Betroffenen hierzulande. Für ihn sind die Krankheit und der Umgang damit ein ernstes Thema, denn er befürchtet, dass diese früher oder später auch durch die Clubs rauschen werde. Seine Partys stehen für Hedonismus und Körperlich­keit. Auf diese zu verzichten oder Darkrooms zu schließen, kommt aber nicht infrage. »Das hat ja auch historische Gründe! Wir Schwule haben eine andere Art zu feiern, die soll man nicht judgen. Wir haben mehr Körperkontakt, auch im Club, tanzen oben ohne, umarmen uns«, so Van der Hint. Auf die anstehende Heraus­forderung reagiert er mit mehr Aware­ness im Club samt Postern der Aids Hilfe Wien. Und er spricht das Thema gezielt in seinem Podcast »Warme Brüder« an. Es sei allerdings fraglich, wie viel Aufmerksamkeit man im Club darauf lenken könne: »Man muss wissen, welchem Risiko man sich aussetzt. Da ist seitens der Regierung gar nichts gekommen.« Wie viele andere vermisst Gerald Van der Hint gezielte Aufklärungs­angebote.

Ob die Prävention auf Männer, die Sex mit anderen Männern haben (kurz: MSM), fokussieren soll, spaltet dabei die Geister. Zwischen der Angst, implizit Homo­phobie zu reproduzieren, und dem drohenden Aufruhr in Online-Kommentar­spalten, geht es schließlich um die Frage, wie man die Aufmerk­sam­keit jener mit dem größten Risiko erregt. Gerald Van der Hint meint, die Statistik spreche für sich: »Es ist nicht homophob zu sagen, dass die Haupt­betroffenen momentan homosexuelle Männer sind. Homophob ist zu sagen, dass das auf Grund ihrer ›schlechten Art‹ zu leben sei – oder dass man sich nicht kümmern müsse, weil es Homos seien.«

Stefan, der selbst Affenpocken hatte, befürchtet allerdings, dass es bei einem solchen Fokus viele geben könnte, die glauben, nicht zum Arzt gehen zu müssen, weil sie hetero sind, oder sich nicht trauen, weil sie sich noch nicht geoutet haben. Karl Heinz Pichler, Allgemeinmediziner einer HIV-Schwerpunkt­praxis in Wien fürchtet zudem, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt: »Bei drei Wochen Quarantäne und einem Absonderungs­bescheid, der einen vor dem Arbeitgeber outet, werden viele nicht zum Arzt gehen wollen.« In seiner Praxis wurden 45 Prozent aller österreichischen Fälle diagnostiziert. Für ihn steht fest: »Die Affenpocken sind gekommen, um zu bleiben. Über kurz oder lang wird es aus der LGBTIQ+-Community rauskommen und auch Heteros treffen«, erklärt Pichler. Wichtig sei für ihn daher, dass die Impfungen breiter erfolgen. »Ziel ist es, 30.000 Impfdosen zu bekommen«, so Pichler weiter, »derzeit erleben wir ein klares Versagen des Bundes, der zu lasch reagiert hat.« Dabei sind die 30.000 auch nur eine Zahl, um jenen mit dem höchsten Risiko gerecht zu werden, schätzungsweise identifizieren sich nämlich sechs bis zehn Prozent der Bevölkerung als homosexuell, also weit mehr als 30.000 Menschen.

Karl Heinz Pichler, Allgemeinmediziner (Foto © Karl Heinz Pichler)

Unbürokratische Impfungen

Derzeit werden in Österreich nur Postexpostions­impfungen angeboten, also nach nach­gewiesenem Kontakt. »Bei diesen sehen wir leider, dass sie sehr schlecht angenommen werden. Mit Ende August wurden nur 24 Menschen geimpft«, so Pichler. Neben Stigma und schwierigem Contact Tracing erwarte Betroffene stundenlanges Telefonieren und das Beantworten intimer Fragen, anstatt unbürokratisch Zugang zu einer Impfung zu erhalten. Van der Hint selbst wurde nach Kontakt auf einer Reise in Frankreich unkompliziert geimpft. Der Arzt bat ihn lediglich seinen Ärmel hoch­zumachen. Bei den vielen Hürden für eine Impfung hierzulande kann der Techno-Veranstalter nur mit dem Kopf schütteln.

Bis Impfungen hierzulande auch vor Kontakt für alle Menschen möglich sind, wird es noch dauern. Die Impf­empfehlung wurde jedenfalls schon angepasst, auch wenn der Impfstoff immer noch nicht reicht: Es gibt 4.400 Dosen für Österreich, diese werden zwar mittlerweile auf fünf Impfungen aufgeteilt, für eine vollständige Immunisierung braucht es aber zwei Teilimpfungen. Bis zum Redaktions­schluss Mitte September war immerhin die Vormerkung zur Affenpocken­impfung der Stadt Wien freigeschaltet, allerdings nur für Gesundheits­personal mit sehr hohem Expositionsrisiko und Menschen mit individuellem Risikoverhalten (sprich: Menschen mit häufig wechselnden Sexualkontakten).

Christina Nicolodi, Impfstoffexpertin (Foto © Christina Nicolodi)

Für die Impfstoff­expertin Christina Nico­lodi ist die Verringerung der Impfdosis auf ein Fünftel ein guter Ansatz, um die verfügbaren Dosen zu erhöhen. Ein Plan zur Steigerung der Kapazitäten fehle aber noch, genauso wie gezielte Präventions­kampagnen. Ein Problem wird bleiben: Der Impfstoff wird aus speziellen für die Pharmabranche gezüchteten keimfreien Hühnereiern hergestellt. »Diese Ressource ist kapazitäts­mindernd«, so Nicolodi.

Norbert Nowotny, Professor an der Veterinär­medizinischen Universität Wien, erklärt, dass das Virus von »einem für die Virusverbreitung förderlichen Risiko­verhalten« von MSM profitiert. Dies inkludiere häufig wechselnde oder neue Sexualpartner und Chemsex, also Geschlechts­verkehr unter Einfluss synthetischer Drogen. »Die Übertragung erfolgt durch engen direkten Kontakt, was nicht unbedingt sexueller Kontakt sein muss«, so Nowotny. »Aber da viele Ansteckungen bei Sexual­kontakt erfolgen, zeigen sich die Pusteln nun vermehrt an Penis oder Anus.« Unterschiede zu vergangenen Ausbrüchen, wie die geringere Anzahl an auftretenden Pusteln, die sich dafür im Urogenital­bereich konzentrieren, führt er auf das menschliche Verhalten zurück, weil Pockenviren als DNA-Viren nur eine niedrigere Mutations­rate haben.

Norbert Nowotny, Professor an der Vetmeduni (Foto © Norbert Nowotny)

Generell sind viele Fragen zur aktuellen Affenpocken-Situation noch offen. Pockenviren wurden seit Ausrottung der Erkrankung im Jahr 1980 wenig erforscht, sie waren vordergründig ein Thema für Veterinär­medizin und Bioterrorismus­prävention. Der bis 2022 größte Ausbruch außerhalb Afrikas umfasste weniger als hundert Fälle und ereignete sich nach dem Import von Tieren aus Ghana in die USA im Jahr 2003. Auffällig ist auch, dass das Affen­pocken­virus bereits rund 40 Mutationen angesammelt hat, deren individuelle Bedeutung noch unklar ist.

In den Clubherbst blickend mahnt Van der Hint jedenfalls: »Wenn wir jetzt anfangen zu impfen, haben die Leute erst in zwei Monaten einen guten Impfschutz. Wir sind viel zu spät dran.« Er fordert, dass alle, die eine Affen­pocken­impfung wollen, geimpft werden, dass eine breite Aufklärungs­kampagne eingerichtet wird und darüber hinaus die Wieder­einrichtung niederschwelliger PCR-Tests – sowohl für Covid-19 als auch für Affenpocken. Damit lassen sich nämlich beide Infektionen erkennen.

Bei der letzten Erhebung im Mai gab es bereits in 103 Ländern registrierte Affenpocken-Fälle. Weder Herkunft noch sexuelle Orientierung spielen eine Rolle bei der Übertragung, das Virus kann jede*n treffen. Solltest du Fieber, Schüttelfrost oder geschwollene Lymphknoten in Kombination mit Pusteln feststellen, wende dich an die telefonische Gesundheits­beratung unter der Rufnummer 1450, deine Hausärztin, deinen Hausarzt oder deine HIV- oder PrEP-Behandler*in. Weitere Infos zu Affenpocken gibt es bei der Aids Hilfe Wien. Für die Impfungen vormerken kann man sich unter www.impfservice.wien/affenpocken sowie telefonisch unter 1450.

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