Techno-Klassik's Not Dead

Zwei Pianisten-Alben auf Infiné: Einmal E-Musik-mäßig-technoider, einmal mehr Richtung arabische volkstümliche Musik. Kurios allemal.

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Der luxemburgische Pianist Francesco Tristano war für das Label Infiné ein echter Glücksgriff. In der Klassikwelt wie im elektronischen Underground gleichermaßen respektiert, einen Mentor namens Carl Craig im Rücken, erregt der 29-Jährige mit jeder seiner Platten international Aufmerksamkeit, und das nicht nur von Barcelona bis Detroit. Die doch noch immer ungewöhnliche Verschränkung von virtuos gespieltem Piano und minimalen Detroit-Techno-Ästhetiken trifft auch bei Elektronik-Laien auf offene Ohren. (Eine neulich von mir im Radio ohne Namensnennung gespielte Platte seines Trios Aufgang führte unmittelbar zu mehreren begeisterten Anrufen und Emails an den Sender.) Nun bringt Francesco Tristano sein drittes Soloalbum heraus, seine Klassikeinspielungen nicht mitgezählt. „Idiosynkrasia“ bedeutet übersetzt Eigentümlichkeit. Eigenständig ist Tristanos Sound tatsächlich, sein Tastenanschlag ist fein nuanciert und nimmt den Pathos auch gerne eine Spur zurück, wenn es ihm nötig erscheint. Seine Kompositionen bewegen sich punktgenau im Feld zwischen sogenannter ernster und Unterhaltungsmusik (Itunes-Gracenote behilft sich mit der Schublade Jazz, aber selbst die lässt sich für einige Momente in Stücken wie "Wilson" oder "Eastern Market" nicht völlig von der Hand weisen).

Tatsächlich tröpfelt Tristano seine Töne bisweilen recht frei über die Tasten, er umreißt und umspielt Miniaturmotive und flicht daraus sehr zarte, fast ein bisschen elegische Fantasien („Lastdays“, "Nach Wasser Noch Erde"). Er ist kein Mann der kraftvollen Akkorde, die Welt der dahin getröpfelten einzelnen Töne ist eher sein Terrain. Niemand verwechsle dieses Werk mit einem Techno-Album, nur weil es in den legendären Planet-E-Studios in Detroit aufgenommen und von Carl Craig mitproduziert wurde. Vielmehr sind antreibende oder gar clubtaugliche Stücke auf „Idiosynkrasia“ eher die Ausnahme. Laut Eigenaussage bat Tristano Carl Craig, die Klänge seines Klaviers nach outter space zu schicken. Für den Hörer solle nicht mehr klar erkennbar sein, ob es sich um ein reales oder ein synthetisches Piano handle. Dieser speziellen Aufforderung kam Craig nur bedingt nach, sondern erzeugte die Weltraum-Ästhetiken lieber durch im wahrsten Sinne des Wortes spacige Synthesizer-Modulationen. welche bei dem abschließenden Elf-Minüter „Hello – Inner Space Dub“ besonders weite Kreise ziehen. Idiosynkratisch ist für dieses Album – ebenso wie für Tristanos Sound im Allgemeinen – wohl das perfekte Wort.

Für Itunes verständlicherweise komplett "Unclassifiable" ist das Debütalbum des libanesischen Pianisten Bachar Mar-Khalifé, der die Sache des Piano-Konzeptalbums anders angeht. Sein Vater ist der bekannte Oud-Spieler und Komponist Marcel Khalifé, sein Bruder Rami bildet, zusammen mit Francesco Tristano und dem Drummer und Programmierer Aymeric Westrich das oben erwähnte Trio Aufgang. Die sechs Stücke seines Albums sind nach allen musikalischen Seiten hin offen, so wandelt sich alleine der Opener "Progeria" etwa von einem arabischen Kinderlied zu einem vom Schlagzeug angetriebenen Klavierstück im Stile Aufgangs, um bereits bei Minute Zwei in der libanesischen volkstümlichen Musik angekommen zu sein; bis dann am Schluss diverse Synthesizer eine Art zweiminütiges Outro modulieren. Das hätte ja nicht unbedingt in ein einziges Stück verpackt gehört, man hätte zum Beispiel aus den verwursteten Ideen mehrere Alben basteln können. E

benso über-vielfältig gibt sich auch der Rest des Albums. "Around The Lamp" klingt wie eine Art akustische Performance, in der es irgendwie um Erotik oder Romantik geht, bestehend aus einer sehr simplen, aus vier aufsteigenden Tönen bestehenden Klaviersequenz und den gehauchten Stimmen von Khalifé und seiner Freundin Lita Jana. Die angeblich darin verborgene Magie bleibt mir buchstäblich verborgen. Der Albumtitel „Oil Slick“ bezieht sich auf einen auf dem Meer treibenden Ölteppich (/den/ Ölteppich 2010?); ihm ist auch das Stück „Marree Noire“, die mit Abstand stärkste Nummer des Albums gewidmet, eine zehnminütige, dunkelschwarze Elegie, in der eine entmenschtlichte, französische Stimme so etwas wie Endzeitstimmung beschwört. "Democratia" tönt dann wieder libanesisch-volkstümlich. Entweder ist "Oil Slick" viel promomäßiges Aufhebens um wenig, dessen Schreie nach "Meisterwerk" unter der Ölschicht es mir gänzlich durch die Finger (und Ohren) gleiten lassen, oder es ist tatsächlich ein hochpolitisches Konzeptwerk, auf das man sich auf eine andere Art einlassen muss, als ich dazu imstande war.

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