»Nach Temeswar, gibt es da gute Flugverbindungen?«, will P. wissen. »Möglich, aber ich fahre mit dem Zug.« Denn abseits der Dauer (ab Wien 09:40, an Temeswar 19:36, inklusive einer Stunde Zeitverschiebung) ist die Verbindung Wien–Temeswar mit nur einmal Umsteigen in Budapest theoretisch gar nicht so übel. Theoretisch.
Ich bin viel mit der Bahn herumgekommen, von Narvik nach Rabat, von Lissabon nach Pamukkale, vom Praterstern nach Floridsdorf … Da kann schon ordentlich was schiefgehen. So auch diesmal: Im Railjet nach Budapest sind sämtliche Klos der zweiten Klasse ausgefallen. Im Südosten Ungarns ist ein Güterzug entgleist, was einen Schienenersatzverkehr und viermaliges Umsteigen zur Folge hat. Wir klammern uns an die ungarischen Mitreisenden, die uns die Problematik ins Englische übersetzen, schließlich übernimmt die Schaffnerin das Kommando: »You follow me«, instruiert sie die wenigen internationalen Fahrgäste, um uns mehrmals in den richtigen Zug zu bugsieren.
Rumänien ist – und dass das auch so bleibt, ist dem kleinkarierten Österreich geschuldet – kein Schengenland, was quälend lange Grenzkontrollen mit sich bringt. Die letzten Kilometer von Arad nach Temeswar legt der Zug in einem beschaulichen Nebenbahntempo zurück. Mit einer Stunde und zwanzig Minuten Verspätung erreichen wir Temeswar, mit rund 250.000 Einwohner*innen die fünftgrößte Stadt Rumäniens. Historische Eckdaten? 1177 erstmals urkundlich erwähnt, kurzzeitig ungarische Hauptstadt, 1552 von den Osmanen erobert, 1716 von den Habsburgern, 1884 erste Stadt Europas mit elektrischer Straßenbeleuchtung, 1989 Wiege der rumänischen Revolution.
Wir haben uns im 1971 eröffneten Hotel Continental einquartiert, einem 15-stöckigen Bau der (östlichen) Moderne, dem seine Vergangenheit im Inneren natürlich nicht mehr anzusehen ist. Beim frühen Frühstück dominiert der Businesslook, die Tourist*innen lassen sich erst später blicken. Erster Gang: zur Tourist Info, Stadtplan besorgen, ein paar Dinge erfragen, Reiseführer checken. Wir werden gefragt, aus welchem Land wir stammen und ich fürchte mich schon vor dem Bekenntnis (siehe Schengen), aber das Personal quittiert unsere Herkunft mit Wohlwollen.
Und dann geht’s los – und im Folgenden kann ich nur auf (meine) Highlights verweisen. Wir starten am weitläufigen Piața Unirii. Der ist voller Barockbauten und Kirchen mit ein bisschen Jugendstil dazwischen, diesem Platz verdankt Temeswar den Namen Klein-Wien. Die römisch-katholische Kathedrale, eine barocke Pestsäule, der serbische Bischofspalast, die serbisch-orthodoxe Kathedrale, das in einem barocken Palais untergebrachte Kunstmuseum Muzeul Național de Artă – das könnte fast alles auch in Wien so stehen. Aber eines passt nicht: Die meisten Häuser des Platzes sind höchstens dreistöckig. Mich erinnert das von der Verbauung her eher an barocke Hauptplätze mittelgroßer österreichischer Städte, St. Pölten zum Beispiel.
Almost Florence?
Wir gehen weiter zum Palatul Dicasterial, der laut Reiseführer als Kopie des Palazzo Strozzi in Florenz gilt. Na jaaa. Ich habe mir die Bilder der beiden Gebäude nebeneinandergelegt. Eine Verwandtschaft ist interpretierbar, aber der Palatul Dicasterial ist über 300 Jahre jünger und sehr viel größer. Hinein kann man in das als Gericht genutzte Gebäude nicht. Die innere Stadt war einst von einer Mauer mit mehreren Basteien umgeben. Ende des 19. Jahrhunderts stand der Befestigungsring dem Wachstum der Stadt im Weg, er wurde geschliffen. Noch heute kann man stellenweise Mauerreste sehen, der größte ist die renovierte Bastionul Maria Terezia, in der sich heute Gastro und ein Museum befinden. Die wuchtigen ziegelroten Mauern der Anlage sind beeindruckend.
Mittags in einem Wirtshaus im Max-Steiner-Palais an einer Ecke des Piața Unirii, Burger und Bier, da kann nichts schiefgehen. Das mit vielen verspielten Details dekorierte Jugendstilpalais ist frisch saniert und strahlt mit seiner weißen Fassade und seinen blauen Fenstern. Während dieser Bericht entsteht, zeigt Google Street View noch den erschreckenden Zustand vor der Sanierung. Wir besichtigen dann noch die prächtige Synagoge in der Innenstadt, die nach ihrer Erbauung in den Jahren 1863 bis 1865 mit 43 Metern Höhe zu den drei höchsten Gebäuden der Stadt gezählt hat – ein selbstbewusstes Statement der damaligen jüdischen Gemeinde. Sie ist, nach Unterbrechungen, nach wie vor in Betrieb. Vieles, vor allem in der Innenstadt, ist oder wird gerade saniert. Manches Palais versteckt sich allerdings hinter Bauzäunen und Abdeckplanen und da wird aktuell auch nichts daran gemacht. Die Stadt brummt, abends ist wahnsinnig viel los, die Lokale sind voll, Tourist*innen aus ganz Europa sind unterwegs.
Am nächsten Tag starten wir am weitläufigen, großstädtischen, mondänen Piața Victoriei, dessen schmale Enden auf der einen Seite von der Orthodoxen Kathedrale, auf der anderen Seite von der Oper dominiert werden. Links und rechts des langen Platzes gibt der Jugendstil den Ton an – Paris und Brüssel lassen grüßen. In der Mitte erstreckt sich eine Parkanlage, entlang der Häuser gibt es viele (junge) Bäume. Die Oper ist ein Bau der Wiener Architekten Fellner & Helmer, die durch einen vorgelagerten (später hinzugefügten) monumentalen und glatten Bogen so ganz anders aussieht als ein »klassischer« Fellner-&-Helmer-Theaterbau. Im Inneren befinden sich auch das ungarische und das deutsche Staatstheater. Dass hier gleich drei Sprachgruppen über eigene Theater verfügen, ist der langen gemeinsamen Vergangenheit zu verdanken. Ungarn ist nicht weit weg und die Region, in der wir uns befinden (genannt Banat), war ab dem Ende des 17. Jahrhunderts Ziel deutschsprachiger Siedler*innen, deren Kultur sich trotz aller Zeitstürme bis heute vor Ort gehalten hat. Die Orthodoxe Kathedrale, ein Stilmix aus byzantinischen und rumänisch-moldauischen Stilelementen, errichtet in den Jahren 1936 bis 1946, beeindruckt mit vielen Türmchen und einem sehr goldenen Inneren.
Auf dem Piața Victoriei nahm im Dezember 1989 die rumänische Revolution ihren Ausgang. An den Platz grenzt der Komplex Casa de Mode (errichtet 1971 bis 1974) mit Geschäften und mehr. Das Gebäude ist nur auf seiner Schauseite renoviert (so etwas bemerken wir auch später wieder). Im hinteren Stiegenhaus ist die Zeit stehen geblieben, alles wirkt alt und verschlissen. Der Blick in den Innenhof zeigt eine sanierungsbedürftige Hinterhofszenerie.
Nachmittags geht’s zu Fuß raus in die Vorstadt, ins Fabrikviertel, immer entlang seiner Hauptachse Bulevardul 3 August 1919, der von zum Teil riesigen Palais im Jugend- und Gründerzeitstil gesäumt ist. Viele der Prachtbauten sind saniert, manche präsentieren sich mit bröckelnder Patina. Wir stehen ehrfürchtig vor der 1899 eingeweihten Neuen Synagoge, die (vermutlich) bis in die 1990er in Betrieb gewesen ist und seitdem verfällt. Ein paar hundert Meter weiter folgt die innen sehr düstere Biserica Millennium, die größte katholische Kirche der Stadt, erbaut in einem Mix aus neoromanischen und Neorenaissance-Elementen. Links und rechts der Hauptachse durch das Fabrikviertel wirkt es schnell kleinstädtischer und ärmlicher.
Unsere Tour endet am großen Piața Traian. Wie auf so manchem Platz der Stadt steht auch hier eine alte Straßenbahngarnitur ausgestellt, die einst in der Stadt unterwegs war. Es ist so heiß, dass wir eine Straßenbahnkarte lösen, ins Hotel fahren und am Pool im Schatten ein paar kleine lokale Biere trinken. Abends versorgen wir uns aus dem Supermarkt, weil uns die Feinkostabteilung interessiert. Die Verkäuferin bietet uns an, großzügig zu kosten, als sie unsere Unsicherheit merkt.
Mit der Straßenbahn durch die Jahrhunderte
Tag drei. Wir kaufen eine Tagesnetzkarte und fahren mit der Straßenbahn, just for fun. Das Straßenbahnnetz wird gerade generalsaniert, manche Linien sind daher nicht in Betrieb. Und manche haben die Sanierung noch vor sich. Über solche Streckenabschnitte schaukeln wir mit gebrauchten Garnituren aus Deutschland, der Fahrer hat ob der Hitze die vorderste Türe geöffnet. Wir durchqueren die Innenstadt, die Jahrhundertwende-Vorstädte, die Moderne der 1930er-Jahre, gelangen in die grau in graue 1970er- und 1980er-Moderne, fahren durch eine ländliche Gegend, ein fast dörfliches Umfeld – bis in die Gegenwart. Die neuesten Wohnbauten sehen aus wie die im Wiener Sonnwendviertel.
Zwischen den Neubauvierteln und den modernen Gewerbe- und Einkaufszentren gibt es immer wieder überwucherte Gstätten, gelegentlich mit Mauerresten. Was stand da früher? Industrie? Plattenbauten? Unterwegs entdecken wir ein aufgelassenes Straßenbahndepot, in dem die Art Encounters Biennial eine Ausstellung zeigt. Verschiedene Künstler*innen bespielen das Lost-Place-Gelände mit seinen Gebäuden aus 1927 mit moderner Kunst – ein enormer Kontrast.
Am Abend essen und trinken wir in der Timișoreana-Brauerei in der Strada Ștefan cel Mare, wo uns der Kellner zurecht darauf hinweist: »This is the freshest beer in whole Romania.« Essen gehen, stellen wir rasch fest, ist deutlich günstiger als zu Hause, Konditoreien und Eissalons hingegen sind teuer.
Am letzten Tag verbringe ich viel Zeit im Museum Memorialul Revoluției, das die Vorgänge von 1989 auch auf Englisch erklärt und schaue mir das Muzeul Național de Artă an, wo vor allem Corneliu Babas (1906–1997) Bilder des verrückten Königs und die Sonderausstellung über Romul Nuțiu (1932–2012) und seinen abstrakten Expressionismus begeistern.
Weil ich bezüglich der Heimfahrt das Schlimmste befürchte, decke ich mich in der deutschsprachigen Buchhandlung Am Dom mit Lesenachschub ein. Hier gibt es deutschsprachige Literatur der deutschsprachigen Autoren*innen des Banats, allen voran von Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur, die hier ins Gymnasium ging. Ich suche mir ihr Werk »Niederungen« aus, das ihre Kindheit in einem Dorf im Banat zum Thema hat. Mit 148 Minuten Verspätung startet unser Zug, der Nachtzug Bukarest–Budapest, in Temeswar. Hier zeigt sich, was Eisenbahn auch sein kann: Mehrere Klos sind bräunlich überflutet, im Zug wird hemmungslos geraucht, die Schaffner kümmern sich nicht weiter drum, zum Trost ob der Lage verteilen sie Wasser und abgepackte Croissants. Die Schäden des Unfalls in Ungarn sind noch nicht beseitigt, wir müssen auf dem Weg nach Budapest wieder mehrfach umsteigen. Mit drei Stunden Verspätung kommen wir zu Hause an.
Mehr zum Thema?
»Temeswar / Timisoara. Kleine Stadtgeschichte« (Verlag Friedrich Pustet)
»Auf den Spuren des jüdischen Temeswar. Mehr als ein Stadtführer« (Schiller Verlag)
Aktuellster und ausführlichster Reiseführer durch die Stadt, der jüdische Kulturgeschichte mit allgemeiner Stadtgeschichte verschränkt und eine Fülle an Informationen bietet.