Tracing Spaces: Der Wiener Nordwestbahnhof
Das Gelände des Wiener Nordwestbahnhofs existiert irgendwo zwischen Handelsknotenpunkt und städtebaulicher Neugestaltung. Ein Künstlerduo arbeitet nun seine Geschichte auf.
von Magdalena ReussVon außen unscheinbar, auf den ersten Blick verlassen, auf den zweiten eher heruntergekommen – besonders attraktiv wirkt das Gelände des Wiener Nordwestbahnhofs, der schon lange kein Bahnhof mehr ist, nicht. Doch hinter dieser grauen Fassade versteckt sich ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener, geschichtsträchtiger Ort, der an jeder Ecke und hinter jeder alten Mauer eine Überraschung bereithält. Einige Areale sind nach wie vor als Logistik- und Güterumschlagplatz in Betrieb, daneben beheimaten die alten Hallen an den Ladestraßen Unternehmen und Relikte einer florierenden Vergangenheit. Das Gebiet wird jetzt, Jahre nach seiner Erbauung, zwischengenutzt und schwebt damit irgendwo im Nirvana zwischen seinem ursprünglichen Zweck und dem Plan einer zukünftigen Nutzung als Wohn-, Büro- und Freizeitgebiet – nach aktuellen Plänen soll dies ab 2020 entstehen. Das Kunstprojekt „Stadt in Bewegung – Zum Abschied eines Logistik-Areals“ ermöglicht, sich auf den Abschied eines Stücks Wiener Stadtgeschichte einzustimmen.
Zwischen-Zeit
Die Zwischennutzung ist aber kein modernes Konstrukt der letzten Jahre, sondern begann bereits in den frühen 1920er Jahren. 1872 wurde der Betrieb des Bahnhofs und der Nordweststrecke aufgenommen, die zu einer der wichtigsten Handelslinien zwischen der Ostsee, Berlin, Dresden und Wien avancierte. 1924 wurde der Personenverkehr eingestellt, dabei wurde die große Halle umfunktioniert – von künstlich aufgeschütteten Skipisten im Zuge des Schneepalasts 1927 über Propaganda-Veranstaltungen der NSDAP ab 1938 und antisemitischen Ausstellungen während der NS-Zeit hat die ehemalige Bahnhofshalle so einiges gesehen. Während dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört und 1952 abgetragen. Die Gleisanlagen blieben für den Frachtverkehr aber in Betrieb und der Bahnhof blieb als Handels- und Logistikknotenpunkt damit zumindest teilweise erhalten. Über die restliche Nutzung des Areals macht man sich nun bereits seit 2008 Gedanken – damals wurden verschiedene Konzepte vorgestellt, die Umsetzung ließ allerdings auf sich warten. Erst im letzten Jahr übernahmen die Logistik-Knoten Inzersdorf und Freudenau einige Kerntätigkeiten des Nordwestbahnhofs.
Dieser relative Planungs-Stillstand bot dem Gelände in den letzten Jahren Raum, ein gewisses Eigenleben zu entwickeln. Die ÖBB betreiben Teile des Bahnhofsgebietes noch als Güterumschlagplatz, mittlerweile nur noch für LKWs, erweitert mit einem Pausenraum und einer Kantine, die als Überbleibsel aus einer besseren Zeit die Mitarbeiter und raren Besucher mit einem besonderen Charme umhüllen. Daneben betreibt eine alte Dame einen kleinen Garten, der wohl entstand, lange bevor Urban Gardening hip wurde. In direkter Nachbarschaft zum Grün befinden sich kleine Handelsunternehmen und eines der größten Filmausstattungslager Österreichs, Props.Co, – eine historisch gewachsene Wunderkammer, wie man sie selten wo zu sehen bekommt.
Kunst am Zug
Zwischen Containern, Logistik- und Busunternehmen, einer multikulturellen Fahrschule und dem alten Postgebäude, das die Architektur des ursprünglichen Gebiets erschließen lässt, hat sich ein Künstlerduo eingemietet, das nun dem Nordwestbahnhof die letzte Ehre erweist. »Zum Abschied eines Logistik-Areals« heißt es auf dem Flyer von Michael Hieslmair und Michael Zinganel, beide ausgebildete Architekten, die den Verein »Tracing Spaces« und seit 2015 einen Projektraum am Gelände betreiben. Sie sind in das Areal verwoben, haben sich integriert und kennen das Gelände wie die LKW-Fahrer, die untertags ihre Routen abfahren. Die Begeisterung ist zu spüren, wenn sie durch die Ladestraßen streunen, Geschichten erzählen und die Vergangenheit aufrollen.
»Wir wollen die Besucher auf die historische und aktuelle Bedeutung des Nordwestbahnhofs als vergessenen Ort innerhalb der Stadt hinweisen«, erzählt Michael Zinganel. Sie besuchen die Leute, sprechen mit ihnen, sammeln Erinnerungen und Bilder und versuchen so, die Geschichte des Nordwestbahnhofs möglichst lebendig zu rekonstruieren und für Besucher, kurz vor der Umwidmung des Areals, erlebbar zu machen. Gezeigt werden ihre Arbeiten direkt in ihren Projekträumen auf der Ladestraße am Gelände, die auch der Startpunkt des seit 5. Mai zugänglichen Parcours sind.
Insgesamt zehn Künstlerinnen und Künstler lassen das Gebiet in den nächsten Wochen und Monaten auf- und hochleben. Ihre Kunstwerke treten dabei mit dem Areal in Dialog und integrieren sich teilweise so gut, dass sie gar nicht sofort erkennbar sind. In der selbsternannten »Kunsthalle«, einer überdachten, offenen und stillgelegten alten Ladeplattform, lädt ein Tischfußballtisch, befestigt im Beton der Ebene, zum Spielen ein. Die Kunstinstallation von Ina Weber ist eine Antwort auf ihre Umgebung. Die Besucher sollen sich wie in einem offenen Stadion fühlen, in dem die Massen fehlen – eine Parallele zum Bahnhofsareal.
Johanna und Helmut Kandl malen das internationale Zeichen der Genfer Konvention zum Schutz für Kulturgut auf den Asphalt einer Ladestraße. Es soll abgenutzt aussehen, als wäre es schon immer hier gewesen. Und es passt, denn ein Kulturgut ist das alte Bahnhofsgelände in der Tat. Es riecht an allen Ecken und Enden nach einem alten Wien, das immer mehr überbaut wird und dem Wandel der Zeit zum Opfer fällt. Das Zeichen kann es zwar nicht schützen, aber immerhin würdigen. Scheinbar funktionslose Objekte und Abfall werden von Martin Kaltwasser eingesammelt und zu neuen Assemblagen verarbeitet. Die Kunst entsteht durch und in dem Raum, in dem sie sich befindet und gibt den Objekten neue Bedeutungen. So ist etwa eine Brücke zu einem angrenzenden Parkplatz entstanden und ein altes Becken am anderen Ende des Geländes durch gefundene Objekte erweitert worden.
Surrealer geht es bei den Schienen zu: Johanna Tinzl und Katrin Hornek haben eine Zukunftsvision der Logistik-Branche entworfen, in der Kreuzbein-Prothesen für haltungsgeschädigte LKW-Fahrer ohne konkreten Demand produziert werden und sich in einem schwebenden Lager über der Region befinden. Laut Vision der Künstlerinnen sei eine solche Prothese, durch einen Fehler der Leap Millisecond-Einfügung im Jahr 2039, nun aus der Cloud gefallen und hat an einem Laternenmast in der Gegenwart eine Bruchlandung hingelegt. Mit dem W-Lan vor Ort verbunden, versucht die Prothese, sich in einem 13-minütigen Dialog mit einer Suchmaschine wieder mit der Cloud zu verbinden, aber es funktioniert nicht.
Neugründung für den Handel
Das LKW-Treiben, nach wie vor das Herzstück des alten Bahnhofsgeländes, steht auch im Zentrum zweier weiterer künstlerischer Arbeiten. Zara Pfeifer bringt den Berufsalltag von LKW-Fahrern auf großformatige Fotodrucke und tapeziert damit die Fassade von Lagerhallen. Gabriele Sturm geht dem Handelstreiben auf den Grund und wird im Rahmen ihres Projekts Teil des Systems von Handel und Ökonomie, das das Areal mitbestimmt. Von der Beobachterrolle hat sie in die Rolle der Händlerin gewechselt und die »nwbh hpfmbh« gegründet – als gewerblich registrierte Handelsunternehmerin arbeitet sie nun mit ihrer Handelsplattform mit den lokalen Betrieben zusammen. »Der für mich interessante Anreiz war, ein Glied dieser Handelskette zu werden und ernsthaft mit diesen Firmen zu kooperieren«, sagt die Künstlerin, oder besser, die Unternehmerin, denn »als Unternehmerin ist man das Epizentrum des Geschehens!« Die Güter, teilweise zu Kunstobjekten umgewandelt, werden im Online-Shop angeboten und vor Ort in Überseekisten präsentiert. Auch ihr Büro am Gelände findet Platz in einem solchen Container und kann mit einem Stapler von einer Lagerhalle zur nächsten versetzt werden.
Durch Raum und Zeit
Dass das Areal und die Kunstinstallationen als lebendige Projekte erlebt werden, dafür sorgen Michael Hieslmair und Michael Zinganel. Animierende Führungen, organisierte Ausflüge und Grillfeste in Ladestraße 1 laden zu einer aktiven Partizipation ein. Die künstlerischen Arbeiten sind über das Areal verstreut platziert und laden dadurch zu einem Parcours über das Gelände ein. Er führt die Besucherinnen und Besucher an Orte, die Geschichte(n) erzählen, Vergessenes enthüllen und noch aktive Betriebe beherbergen. »Die Kunstwerke sind dabei Wegweiser, Markierungen bestimmter Funktionszonen und thematische Verstärker«, wie Michael Hieslmair und Michael Zinganel es beschreiben.
Das Kunstprojekt »Stadt in Bewegung – Zum Abschied eines Logistik-Areals« ist von 5. Mai bis Mitte Juli 2017 jeweils am Wochenende bzw. mit Führungen nach Vereinbarung begehbar. Der zweite Teil unserer Coverstory zum Thema Zwischennutzung ist hier zu finden.