Der Extremperformer Ivo Dimchev mutet seinem Publikum nur das zu, was er sich selbst auch zumutet: Alles.
Das Partizip "verstörend" ist untrennbar mit Ivo Dimchev verbunden – kein Text über den gebürtigen Bulgaren, der über dreißig Bühnenwerke produziert hat, kommt ohne diesen Begriff aus. Er sei ein "verstörender Performer", der "verstörende Performances" erschafft. Dieser Ruf kommt nicht von ungefähr: Ivo Dimchev greift gerne zu drastischen Darstellungsmitteln. Er schlitzt sich mit Rasierklingen das Gesicht auf und versteigert sein Blut auf der Bühne. Oder bezahlt bei der Arbeit "P Project" das Publikum dafür, dass es auf der Bühne zum gefakten Trockensex antritt. Auch Bühnen-Blow-Jobs finden sich im Repertoire.
Nur keine Scham
Das ist keine Krawallmache, sondern eine fundamentale Auseinandersetzung mit hochpersönlichen Themen, die Dimchev mit dem Publikum teilen muss – ohne Rücksicht auf Verluste. Scham oder Angst haben hier keinen Platz, absolute Offenheit ist die Konsequenz, so Dimchev im Gespräch: "Es gibt nichts Persönliches, das es nicht verdient erforscht und geteilt zu werden. Sobald ich mich fühle, als würde ich etwas verstecken, schäme ich mich. Und ich will mich für nichts schämen."
Fremdwort Langeweile
Dieses Ankämpfen gegen die Scham und das Geheimnis findet permanent auf allen Ebenen statt. Dimchev ist ein Universalkünstler. Wenn er nicht probt, schreibt, fotografiert, malt, zeichnet er, arbeitet an Skulpturen aus ausgestopften Tieren oder singt und improvisiert am Klavier. Langeweile? Ein unverständliches Konstrukt für Ivo Dimchev. Genauso wie die oft gesuchte "Inspiration". Der Schöpfungsakt an sich ist ihm Input genug. Und bei seiner Bearbeitung des "Es" findet er immer wieder ganz von selbst das Große im Kleinen. In "Paris" etwa beschäftigt er sich mit der Stadt, die die vielleicht wichtigste Rolle Im Leben von Migranten des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Wie offen oder geschlossen ist dieser Ort mit der großen Einwanderungstradition heute gegenüber dem Fremden – und was heißt fremd sein überhaupt? Angesichts der dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre in der französischen Hauptstadt möchte man dem 2008 für den Tänzer Christian Bakalov konzipierten blutigen Solo hellseherische Qualitäten zusprechen.
The most healing performance ever
Vor der Aufführung von "I-Cure" im Sommer 2014 beim Impulstanz-Festival raunte man sich im Publikum zu, "dieses Mal werde es nicht so verstörend" werden. Schließlich widmete sich Dimchev dieses Mal der Heilung von sich und seinem Publikum. Vier Dinge für die man sich Erleichterung wünsche, solle jeder auf ein Kärtchen schreiben. Denn – wieso sollte man eine Stunde für ein kleinbürgerlich-kulturelles Ereignis verschwenden, wenn man sie auch dem eigenen Seelenheil widmen kann? Selbstheilende Kräfte verströmen nach der Ivo-Methode die unterschiedlichsten Dinge: Die russische Sprache, die Frequenz von 528 Hertz und auch Schockmomente. Von diesen Schockmomenten gibt es einige im Stück, das diesen Sommer auf ausdrücklichen Wunsch von Impulstanz-Intendant Karl Regensburger wieder in Wien zu sehen sein wird. So schockierend, dass sogar Ivo kurz vor Schluss der Vorstellung zugeben muss: "It´s so disgusting I can´t even look at it."