Postkarte aus Moria – Videopremiere: Wienerzucker »I glaub euch ka Wort«

Mit einer Gitarre stellt sich Wienerzucker vor die Kulisse des abgebrannten Flüchtlingslagers in Moria, um die Erlebnisse von einem Monat NGO-Arbeit zu verarbeiten. Das Ergebnis präsentieren wir hier in Begleitung eines Zoom-Interviews.

Du bist mittlerweile zurück im sicheren Österreich. Wie fühlt sich das an?

Hauptsächlich war ich überrascht darüber, wie schnell mein Leben wieder normal geworden ist. Ich bin jetzt seit zwei Wochen in Wien. In den ersten vier, fünf Tagen konnte ich niemandem erklären, wie es dort war und wie es mir damit geht. Diese Normalität ist mir heute fast ein bisschen unangenehm. Die Zustände dort sind seit Jahren so, sie haben sich in meiner Zeit dort nicht merklich verändert. Es ist eine surreal-dystopische Situation, in der wir hier sind. Noch immer erreichen uns Videos von brennenden Zelten. Es ist ganz, ganz schwer, das einzuordnen, aber andererseits habe ich mich schon vor meiner Ankunft in Griechenland darauf vorbereitet, dass es der Sache am wenigsten hilft, wenn ich auf unkonstruktive Art traurig bin.

Wienerzucker © Valentina Rosa

2018 hast du dein Debütalbum unter dem Alias Open Tribe veröffentlicht. Damals als Psytrance-Artist. Quasi gleichzeitig wurdest du der Szene überdrüssig und hast ihr den Rücken gekehrt. Etwa wegen der abnehmenden Politisierung oder zumindest der wachsenden Forderung danach innerhalb der Szene elektronischer Musik in Europa?

Grundsätzlich war es eher eine persönliche Entwicklung in eine andere musikalische Richtung. Ich mein, eine fette Bassline und eine schwere Kickdrum erzählt was und macht was mit den Leuten. In meiner Gitarrenmusik konnte ich aber die transportierten Gefühle und Botschaften besser pointieren, den Interpretationsspielraum des Narrativs einengen. Andererseits war es einfach krass, wirtschaftlich von einer Arbeit abhängig zu sein, die sich hauptsächlich von 3 bis 7 Uhr in der Früh abspielt. 

Die Szene hat außerdem nicht die größten Ambitionen zur Professionalisierung, was grundsätzlich etwas sehr Schönes ist. Aber dann wegen fehlenden Genehmigungen Gigs abgesagt zu bekommen oder im Nachhinein um Gagen streiten zu müssen, geht sich halt auch nicht aus.
Der politische Aspekt war aber auch dabei. Allerdings habe ich mehrheitlich erlebt, dass sich Leute eben genau gegenteilig politischen Ideen angenähert haben, die ich als hochgradig problematisch erachte. Dieser spirituelle Esoterik-Stuff war dann doch der Nährboden für Verschwörungstheorie und Schwurbelei. Das fängt an mit selbsternannten Impfaufklärern, deren Quellen himmelschreiend absurd waren und jeglicher Wissenschaftlichkeit entbehrten. Bis hin zu Veranstaltern in Norddeutschland, die dann die AfD doch nicht so schlecht fanden.

Wie gehts denn jetzt mit deiner oder eurer Musik weiter? Steht schon was in den Startlöchern?

Ganz akut: Am Freitag spielen wir ein kleines Konzert beim Klimastreik in Wien. Wienerzucker besteht ja mittlerweile aus einer sechsköpfigen Band. Aus den Lockdown-Komplikationen heraus habe ich mich vergangenes Jahr aber wieder auf die Entstehung besonnen, nämlich auf den einen Typen mit der Gitarre, der über seine Gefühle singt. Deswegen wird da vermutlich bald auch eine kleine akustische EP kommen. Momentan hapert’s noch ein bisschen an der Labelsuche, aber vielleicht liest hier ja jemand mit, haha.

Wienerzucker © Christoph Schütter

Abschließend zurück zur Lage in Griechenland. Wir sitzen hier teils vor unseren Bildschirmen und können es nicht fassen. Gibt es etwas, was man von Österreich aus tun kann, das tatsächlich vor Ort unterstützt und nicht nur das eigene Gewissen beruhigt? 

Im Kontext der Katastrophenhilfe gibt es zwei Organisationen, für die ich meine Hand ins Feuer lege. Spendet man an sie, geht das Geld an die richtige Stelle. Das sind Doro Blancke und Home for All. Und darüber hinaus kann man auf Demos gehen. So banal das auch klingt, aber wenn eine Abschiebung nach Afghanistan nicht von 50, sondern von 5.000 Leuten blockiert wird, dann ist das gleich mal eine andere Hausnummer. Wenn Wochenende für Moria ist: hingehen! Ansonsten: lästig sein! Das ist ein sehr idealistischer Ansatz, aber wenn jemand rassistische Kackscheiße von sich gibt, konstruktiv darüber reden, diskutieren, es nicht unwidersprochen lassen. Wichtig ist dabei, dass man nicht alle Leute auf seine Seite holen muss. Diejenigen, die mir Instrumentalisierung vorwerfen und die in der Diskussion mit einem ablenkenden »Aber was ist mit unseren Obdachlosen?!« kommen, kann man vermutlich nicht überzeugen. Abzuholen gilt es die, die der Meinung sind, dass furchtbar ist, was in Moria passiert, aber meinen, man könne nichts machen. Die schweigende politische Mitte muss dazu gebracht werden, ihr Schweigen zu brechen. Man muss Leute wieder an die Idee heranführen, dass man als Einzelperson sehr wohl politischen Einfluss hat. Und sehr viele Einzelpersonen gemeinsam haben dann irgendwann auch so was wie Macht. Eine bessere Antwort kann ich auf diese Frage nicht geben. Ich teile meinen persönlichen Input gerne, aber es wär gelogen, wenn ich nicht zumindest einmal ein »Ich weiß es nicht« nachschicke. Die Situation treibt achtjährige Kinder zu Selbstmordversuchen. Wollen wir das? Nein, das wollen wir nicht. Man kann und soll sich vom Gedanken der eigenen Ohnmacht verabschieden. Die Politikverdrossenheit in Österreich ist allerdings auch irgendwo nachvollziehbar. Es bleibt fucking schwierig. 

Wienerzucker »I glaub euch ka Wort«

Die Videosingle »I glaub euch ka Wort« von Wienerzucker ist heute, also am 17. März 2021, als Self-Release erschienen.

Spendenmöglichkeiten:

Flüchtlingshilfe Doro Blancke

doroblancke.at/jetzt-unterstuetzen
IBAN: AT933842000000027516 – Betreff »Lesbos«

Home for All
homeforall.eu/donate
IBAN: GR4301107620000076200228708 (SWIFT/BIC: ETHNGRAA)

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