»Ich hoffe, dass der Film in fünf, zehn Jahren viel mehr eine Ehrentafel für die gebliebenen Wissensträger*innen als eine Gedenktafel für eine verschwundene Profession sein wird«, sagt Albin Wildner über seinen sehenswerten Dokumentarfilm über die letzte Näherei ihrer Art in Österreich. »Die Gebliebenen« ist neu in der Cinema Next Series kostenfrei zu streamen. Wir haben den Filmemacher zum Gespräch gebeten.
»Die Gebliebenen« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.
In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Die Gebliebenen«?
Albin Wildner: Im Film »Die Gebliebenen« tauchen wir mitten in den Arbeitsalltag der letzten Näherei in dieser Form in Österreich ein. Wir bekommen multiperspektivisch Einsicht in die Biografien der Arbeiter*innen und erkennen die gemeinsamen und verbindenden Schicksale. Diese Schicksale erzählen uns vom Niedergang einer großen und für jeden Menschen essenziellen Handwerkskunst in Europa: die im Aussterben begriffene Produktion von ganz normaler Kleidung.
Wie kam es dazu, dass du dir diesen Näherei- und Textilbetrieb, einen der letzten seiner Art in Österreich, genauer angeschaut hast?
Mein bester Freund ist der Neffe des Geschäftsführers dieses Betriebes und sein Vater musste auch schon miterleben, wie seine Firma damals schließen musste. Diese Geschichten über das Firmensterben in der österreichischen Textilindustrie kenne ich somit von Erzählungen schon länger, aber ich habe mir in meiner Jugend darüber weniger Gedanken gemacht. Erst nachdem Gert Rücker meinen Film »Der Wächter« bei der Diagonale 2019 gesehen hatte und mich in weiterer Folge dann in seinen Betrieb einlud, habe ich mich näher damit beschäftigt. Die Tatsache, in dieser anfangs unscheinbaren Halle ein filmisches Dokument über die tragische Entwicklung einer gesamten Branche, die eigentlich sogar generell für fast alle Handwerksberufe steht, produzieren zu können, war mir eine Ehre. Außerdem liegen mir die Schicksale von Mitarbeiter*innen in Produktionsbetrieben generell aufgrund meiner eigenen Vergangenheit vor dem Filmschaffen nahe: Bis ich 28 war, war ich selbst in einem Industriebetrieb und bin erst danach auf die Filmakademie gegangen.
Es gibt im Film Mitarbeiter*innen, deren Geschichten wir nur streifen, die aber jeweils einen eigenen Film verdienen würden: die slowenische Produktionschefin, die neue Mitarbeiterin aus Afghanistan oder die Designerin als eine der wenigen Jungen im Team. Welchen Fokus wolltest du setzen, wonach hast du gesucht?
Ich wollte jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin, egal ob den Arbeiter*innen, der Produktionsleiterin oder dem Geschäftsführer, soweit das möglich war, die gleiche Stimme geben, um diese Geschichte von verschiedenen Realitäten und verschiedenen Standpunkten aus zu erzählen. Der Fokus lag zwar sehr wohl auf den individuellen Schicksalen – diese sollten sich aber zu einem größeren Bild zusammenfügen, um etwas Universelles erzählen zu können. Es tun sich dann neben der tragischen Geschichte der europäischen Textilindustrie auch noch weitere Räume für gesellschaftliche Fragen auf wie beispielsweise der mögliche Zusammenhang zwischen dem Verlust von Arbeit durch die Abwanderung von Produktionsstätten und einer anschließenden Veränderung im politischen Spektrum – besonders bei Sicherheitsthemen und Migration.
Wie lange hast du den Betriebsalltag begleitet und was war für dich das Faszinierendste, das du in der Halle angetroffen hast?
Ich war vorab zwei Tage zur Recherche und dann vier Tage für Dreharbeiten im Betrieb des JMB Fashion Teams in Rohr an der Raab. Ich war an einer flexiblen Handkamera und bildete mit Tonmeister Ken Rischard ein bewegliches Zweiergespann. Das Wichtigste war für uns, den Betriebsalltag so wenig wie möglich zu stören. Da wir den Personen allerdings sehr nahekommen wollten, drehten wir so, dass wir nie eingreifen mussten und die Dinge »ungestört« und zumindest ohne zeitliche Unterbrechung weiter ihren Lauf nehmen konnten. Dafür mussten wir eben flexibel sein, um unterbrechungsfrei den Arbeitsablauf und die damit verbundenen Gespräche verfolgen zu können. Es war erstaunlich, wie schnell man sich an uns gewöhnt hat – vielleicht gerade auch, weil wir eben sehr nah und präsent waren und nicht aus der Entfernung gedreht haben. Die Interviews haben wir immer am jeweiligen Arbeitsplatz nur auf Ton aufgenommen – somit wurden die Protagonist*innen nicht allzu sehr in eine ungewohnte Situation gestoßen. Das Faszinierendste waren für mich die vielen immer wiederkehrenden Geschichten über den Verlust des Arbeitsplatzes, der auch ein Verlust von vertrautem Lebensraum bedeutet.
Wolltest du mit dem Film auch etwas festhalten, das es in fünf, zehn Jahren nicht mehr geben wird?
Ich hoffe sehr, dass der Betrieb bestehen bleibt und nicht den anderen folgt, die in den letzten Jahrzehnten allesamt aus wirtschaftlichen Gründen von Europa Richtung Asien abgewandert sind, um dort billig zu produzieren – obwohl selbst unter den Arbeiter*innen darüber Misstrauen herrscht, ob den Betrieb nach der Pensionierung des Geschäftsführers noch jemand übernehmen möchte. Die Produktion von Kleidung ist ja kein Luxusgut, sondern für jeden Menschen etwas absolut Essenzielles – eigentlich nach der Nahrung das nächste lebensnotwendige Gut. Der Gedanke daran, dass unsere Volkswirtschaft praktisch nicht mehr imstande ist, das selbst zu leisten, macht mich sehr betroffen. Ich glaube, dass die Kleidungsproduktion immer zu einem Großteil von Menschen und nicht durch Maschinen durchgeführt werden muss – allein schon wegen der Komplexität der flexiblen Materialien und Stoffe. Das lässt sich maschinell nur sehr schwer und eingeschränkt umsetzen. Daher ist auch das Verschwinden der Wissensweitergabe so erschreckend. Es gibt einfach auch das Know-how dazu nicht mehr – das wurde genau wie die Produktionsstandorte weggegeben. Ich hoffe jedenfalls, dass der Film in fünf, zehn Jahren viel mehr eine Ehrentafel für die gebliebenen Wissensträger*innen als eine Gedenktafel für eine verschwundene Profession sein wird.
Du machst nicht nur Dokumentarfilme, sondern auch Spielfilme – auch als Kameramann. Was sind die nächsten Projekte, die bei dir anstehen?
Ich habe in den vergangenen Monaten meinen ersten Langspielfilm als Kameramann fertiggestellt: Bernhard Wengers Debütfilm »Peacock« mit der Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion in Koproduktion mit Cala Film aus Deutschland. Darüber hinaus bin ich gerade mit meinem ersten langen Dokumentarfilm »Jasminkas Garten« im Feinschnitt. Hier tauchen wir in die Welt einer serbischen Kampfsportmanagerin, ihrer bosnischen Freundin und der jungen Kämpfer*innen ein, in der wir neben dem beinharten Profisport auch ein Spiegelbild der jüngeren europäischen Geschichte vorfinden. In einer geschlossenen und umfunktionierten Hofer-Filiale in der ältesten Stadt in Österreich ist jetzt ein bezauberndes Kampfsportgym mit eigenem Gemüsegarten, in dem ehemalige Flüchtlinge auf die österreichische Landbevölkerung treffen. Gemeinsam machen wir uns auf die Reise zu einem internationalen Mixed-Martial-Arts-Event.
Eine Interview-Reihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.