Das schlimmste Monster ist immer noch der Mensch – und seine größte Hoffnung zugleich. Eine Anime-Serie setzt diesen unheimlichen Umstand beinahe perfekt um.
Eine andere Theorie geht so weit, dass die Titanen den unbändigen Hunger nach Ressourcen verkörpern würden. Indem wir mehr verbrauchen als die Erde jemals produzieren kann, frisst die Menschheit sich selbst auf. Die ersten Opfer sind die, die am Rand leben, im Süden, wie in der Serie, wo Armut und Angst alltäglich sind. Die Idee zu den Titanen kam dem Autor Hajime Isayama in einem Internetcafé, als ein Kunde ihn am Kragen packte, aber so betrunken war, dass er völlig unfähig war, mit ihm zu kommunizieren. Die hohen Wände zum Schutz vor den Titanen könnten insofern auch psychologische Bedeutung haben als mentale Barriere, hinter der das Unheimliche, das Hässliche und Groteske lauert. Und Sigmund Freud selbst sagte in seinem Aufsatz über das Unheimliche ja, dass dieses zugleich vertraut und unvertraut ist.
Goya, Zeus, Gaza
Wie der griechische Titan Kronos eines seiner eigenen Kinder frisst, wurde von Francisco de Goya in einer grandiosen und grässlichen Vision mit Öl direkt auf einer Wand seines Esszimmers verewigt. Zeus verschlingt wegen einer Prophezeiung die schwangere Mutter Athenas, wodurch Athena überhaupt erst seinem Kopf in voller Rüstung entspringen kann. Kannibalismus ist quer durch fast alle Kulturen belegt, die Gründe können völlig unterschiedlich sein. Es überleben aber immer die, die fressen. Hier wird die Perspektive umgedreht. »Attack On Titan« zeigt die Opfer, die dunkle Seite des Konflikts, zeigt den Kampf gegen ein überwältigendes Anderes. Die Menschen werden belagert und bedroht, wie in Camps, wie hinter den Mauern des Gazastreifens oder hinter meterhohen Grenzzäunen.
Wer wen jagt, das soll sich in der Serie umkehren. »Attack On Titan« spart dabei nicht an Blut, langen inneren Monologen und spektakulären Bildern. Die Uniformen und Doppelklingen der Soldaten sehen schick aus, die Charaktere sind zwar etwas flach aber ungewöhnlich und der 3D-Manöver-Apparat, mit dem die Einheiten sich durch die Luft bewegen, bringt eine fantastische Anmut in die Szenen. Die Welt innerhalb der Mauern sieht zwar oft generisch aus, sie bietet andrerseits genügend Raum für Konflikte, Dummheit und Egoismus unter den Menschen. Die reichen und religiösen Kasten leben mit dem höchsten Schutz im innersten Zirkel und kümmern sich nicht um das Schicksal der Menschen ganz außen, sie benutzen sie indirekt sogar als Köder.
Sie sterben wie die Fliegen
Die Story wird dabei sehr geradlinig erzählt, nimmt aber immer wieder unerwartete Wendungen, zusätzlich angetrieben von Mysterium, was die Titanen überhaupt wollen und einem Schlüssel, den Eren Yeager von seinem Vater bekommen hat. Ähnlich wie in »Game Of Thrones« sterben selbst viele der zentralen Figuren, sie werden gefressen, zerteilt und gegen Wände geklatscht. Der Plan am Ende wirklich alle Helden sterben zu lassen, wurde angeblich aber aufgegeben. Die subtile Poesie der Filme von Hayao Miyazaki sollte man sich von der Serie nun nicht erwarten, aber zumindest visuell wurden die Folgen von Production I.G, die auch schon »Ghost In The Shell« und »Jin-Roh« realisiert haben, eindrucksvoll umgesetzt.
Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – hatte der Staatstheoretiker Thomas Hobbes eigentlich für Konflikte zwischen Staaten und Städten verwendet, während Menschen in ihrer eigenen Gesellschaft zu Mitgefühl fähig wären. Sigmund Freud greift den Satz in »Das Unbehagen der Kultur« auf. Menschen helfen einander, der Nächste ist aber immer auch »…Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.« In »Attack On Titan« wird das perfekt übersetzt. Nur dass die nackten Titanen keine Geschlechtsorgane haben, passt da nicht ganz ins Bild.
»Attack On Titan« erscheint als Manga in deutscher Übersetzung bei Carlsen. Die erste Staffel des Anime ist mehrsprachig als DVD und Blu-ray erhältlich. Im deutschen Sprachraum wurde die Serie noch nicht ausgestrahlt. Die zweite Staffel ist für Anfang 2016 angekündigt. Die beiden Realfilme kommen noch 2015 ins Kino.