Trümmer sind Steine der Hoffnung

Wenn außer einem selbst niemand sonst mehr an einen glaubt, gibt es außer der Selbstachtung nichts zu verlieren. Gefährliches, Verzweifeltes, Großes kann entstehen. Naked Lunch haben aus den Scherben ihres einstigen Scheiterns vor allem eines geschaffen: wunderschöne Lieder für die Erschöpften.

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Ein endlos langer Satz. Eine Bandautobiografie gleichsam für die Bühne geschrieben: ein ausufernder Monolog, 627 Worte lang, wie einer dieser verbalen Rundumschläge Thomas Bernhards, inklusive Selbstbesudelung und dem, was man nicht nur in Naked Lunchs Kärntner Heimat Nestbeschmutzung nennt. Anständig und tüchtig ist man als Band trotz aller Fehler zwar stets gewesen in den dreizehn Jahren des gemeinsamen Wirkens, doch diese Vorzüge definiert man anders als diejenigen, die rings um einen die Mehrheit stellen. Nicht von der Tiefe und Reinheit der Kärntner Seen als Inspirationsquelle ist da die Rede, sondern vom Jammertal Klagenfurt, „einem leidlichen Kaff im benebelten Österreich“.

Welter Skelter

Kurz hat Oliver Welter, Sänger, Gitarrist, Songwriter und letztes verbliebenes Gründungsmitglied von Naked Lunch, überlegt, ob er diese vielen von ihm aneinander gereihten Worte vor der Live-Präsentation des neuen Albums verlesen soll. Um in einem Satz gleich alles gesagt zu haben. Zu den fünf bisherigen Alben, den reichlich snobistischen Angebervideos der Vergangenheit, dem großkotzigen Gehabe von einst, als man sich schon auf dem Weg zum Superstardom glaubte, um dann von einem und noch einem Majorlabel gedroppt zu werden, als zu wenige die Platten kaufen wollten. Um gerade durch das Aufrollen dessen, was war, irgendwie Tabula rasa zu schaffen, und die Ohren des Publikums für das Neue zu öffnen. Um – und das wohl vor allem – den langen Atem des eigenen Musikmachens zu demonstrieren, nach all dem Scheitern zumindest mit einem würdevollen Trotzdem oder einem wütenden Jetzt-erst-recht noch einmal neu zu beginnen.

Schnell hat man sich dann doch dagegen entschieden. Zu prätentiös und auch platt wäre es gewesen, einen Gig mit den programmatischen letzten vieren dieser 627 Worte einzuleiten. „Immer verzweifelt, nie entmutigt“ – das zu vermitteln, das müsste schon der Musik gelingen. Wo doch die Live-Präsentation des neuen Longlayers „Songs for the Exhausted“ ohnehin schon in äußerst ungewöhnlichem Rahmen stattfinden sollte.

Erschöpft im Auditorium

„Heast, do is es scho komisch“, stößt Oliver Welter durch sein Mikro in die Leere: „Alles so seltsam irgendwie.“ Ein Tontechniker hat zweihundert noch hochgeklappte Sitzplätze entfernt alle Hände voll zu tun, den Hall aus der Stimme des Sängers wegzubekommen. Auch für den Mann am Mischpult ist die Situation nicht gerade alltäglich. Wer weiß schon, wie man in einem mit raumhohen schwarzen Vorhängen zu einer Konzerthalle umfunktionierten Marmorprunksaal für die optimale Akustik sorgt. Ausprobieren ist alles. Zwischen den beiden Sound-Akteuren sitzen ein paar Vertraute, Freunde, Wegbegleiter der Band, horchen, beobachten, geben Ratschläge aus dem Publikumsraum. Passt! Mehr Bass! Klingt scheiße! Soundcheck im Kasino am Schwarzenbergplatz, wo auf Geheiß Franz Josephs I. die Österreichische Offiziersgesellschaft residiert, wo seit der Intendanz Claus Peymanns das Burgtheater inszeniert – und wo in wenigen Stunden „Songs for the Exhausted“ erstmals live vorgestellt wird.

Alle sind angespannt. Nichts klappt: Kabel sind zu kurz. Im Effektgerät haben sich Kontakte gelöst, der Lötkolben wird auch nicht richtig heiß, und Mischpult ist man aus dem Studio von Bassist Herwig Zamernik ein besseres gewohnt. Keine Spur von Aufbruchsstimmung oder gar Enthusiasmus. Stattdessen Raunzen, Fluchen und masochistisch ausgekostetes Selbstmitleid. Immer verzweifelt halt.


Sing along the Blues

Es ist noch keine zwei Monate her, da ließ sich die Zahl derer, die einen Song von Naked Lunch singen oder zumindest aus dem Stand mitsummen konnten, an den Händen aller jemals an der Band Beteiligten abzählen. Das waren – je nach Sichtweise – viele, aber auch verdammt wenige. Zu wenige; zumindest für eine Band, die in manchen Kreisen seit bald zehn Jahren als die Pophoffnung aus dem Land mit dem A gilt. All die Jahre über waren Naked Lunch irgendwie immer da, doch nie präsent. Und waren sie zwischendurch wieder einmal kurz in Vergessenheit geraten, kündigte sich auch schon wieder gerüchteweise eine EP, in jedem Fall aber der ultimative Coup an. Das Szenenetzwerk funktionierte, die Mundpropaganda war im Vorfeld einer jeden neuen Veröffentlichung enorm, die Erwartungshaltung dementsprechend und immer überzogen – bis sich eigentlich kaum jemand mehr irgendetwas von dieser Band erwartet hatte. Auch weil es – besonders im Nachhinein – immer ganz so aussah, als ob sich die Klagenfurter gerade noch auf den letzten Waggon des durch die Musiklandschaft rasenden Zugs geworfen hätten.

Das ist jetzt alles anders. „Songs for the Exhausted“, das neue Album, ist draußen: ein lange angekündigter, immer wieder doch nicht erschienener Longplayer, mit dem sowieso niemand mehr so richtig gerechnet hatte. Vor allem aber: ein Longplayer, den Naked Lunch in dieser Intensität, Ausgereiftheit und songwriterischen Qualität kaum jemand zugetraut hätte. Man muss schon dazu stehen – so gut wie alle hatten Naked Lunch abgeschrieben.

Bezeichnend, dass ein namhafter Popkritiker des Landes „Songs for the Exhausted“ bereits vorbeugend ungehört second hand entsorgt hatte und sich – erst nachdem sich gleich in mehreren Publikationen euphorische Besprechungen des Tonträgers abgedruckt fanden – von der Plattenfirma ein weiteres Promotion-Exemplar schicken lassen musste, um die Platte dann, gleichermaßen beeindruckt wie bekehrt, selbst in den Himmel zu loben.

Es ist immer noch nicht so, dass einem in Einkaufsstraßen Heerscharen von Leuten über den Weg liefen, die voll Inbrunst „God„, „Lost It All“ oder „First Man on the Sun“ pfiffen. Dazu haben Naked Lunch dem potenziellen Singalong, dem klassischen Popsong auch viel zu sehr abgeschworen. Dazu ist das noch am ehesten hittaugliche „The Deal“ – das demnächst als zweite Single ausgekoppelt wird – zu sehr eingebettet in die restlichen neun „Songs for the Exhausted“, zu sehr versteckt inmitten all der tieftraurigen, manche meinen melancholischen Lieder. Und doch bleiben da Zeilen hängen – „I feel like the first man on the sun / Need to burn down for everyone“, „The party’s over / We’ve been an army / Now I’m one“ -, nisten sich Spurenelemente einer Melodie ein, wollen wieder und wieder gehört werden. Und plötzlich erwischt man sich Stunden später dabei, wie man vor sich hin summt, in Gedanken gar selbst singt. „We struggle hard not to surrender / We fear the future and the past / Every minute seems like a torture / That is more we can take.“

Dias im Neonnebel

Es ist dunkel im Saal. Musik vom Band. Ein alter Mann setzt laut und verzweifelt an zu erzählen; davon, dass er sich heute selbst wehtun musste, um sich zu vergewissern, dass er überhaupt noch am Leben sei. Johnny Cashs Coverversion von „Hurt“ sagt mehr als 627 Worte – die Ode an den Schmerz. Und ein Bekenntnis zum Leben, zum bedingungslosen Weitermachen. „I focus on the pain / The only thing that’s real.“ Die zweite Strophe ist kaum vorüber, da blitzt ein Spot: eine Gitarre, ein Bass, ein Keyboard, ein Schlagzeug, Nebel. Naked Lunch legen los. Die Setlist sagt: alle zehn Songs in 41 Minuten, straight der Reihe nach runtergespielt, wie sie auf dem Album drauf sind. Unterstützt von pixeldüsteren Diaprojektionen sowie allerlei vorgefertigten Sounds, die der zum fünften Bandmember erkorene Produzent Olaf Opal auf Konserve zum Live-Set beisteuert. Obwohl der zu Hause in Bayern sitzt, wähnt man sich hier in Wien heute Abend manchmal in Weilheim (wohl vor allem, weil Opal für die „Songs for the Exhausted“ einige Male zu denselben Samples gegriffen hat wie während seiner Arbeit an The Notwists „Neon Golden“). Doch das stört nicht im Geringsten. Das Zusammenspiel passt perfekt, der Gesamtsound ist für Live-Gigs beinahe schon beängstigend stimmig, und was nicht live passieren kann, bleibt nicht beengendes Korsett, sondern wird zum hilfreichen Rahmen. 43 gnadenlos schöne Minuten später ist das Spiel aus. Mit kurzen Kommentaren zu den jeweils kommenden Songs hat Oliver Welter dem Publikum das Maximum gegeben. Nicht enden wollender Applaus und Standing Ovations, wie es sie nur in bestuhlten Theaterhäusern geben kann, ändern nichts daran: Nichts geht mehr. Man hat die Lieder für die Erschöpften gespielt. Und aus. Keine Zugabe, nichts. Es geschieht, wie es in den Regieanweisungen für den heutigen Abend geschrieben steht: Licht an.

Zum Interview über gefloppte Alben und geplatzte Deals geht’s hier lang.

Holger Fleischmann über die Karrierestationen von Naked Lunch.

Naked Lunch wieder auf Tour. Nähere Infos unter www.nakedlunch.de

Bild(er) © Lukas Beck
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